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Ältere Knastbrüder unter sich

12. Dezember 2001

In Deutschlands einzigem Seniorengefängnis am Bodensee sitzen 50 Männer ab 60 Jahren. Offene Zellen, längere Besuchszeiten und einen selbsbestimmten Tagesablauf werden den Bedürfnissen der Inhaftierten gerecht.

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Bild: AP

Regelrecht idyllisch wirkt der Innenhof. Bänke gruppieren sich um eine Grünfläche mit Sträuchern und Fischteich. Ein Spielfeld lädt zur Bewegung ein. Doch das beschauliche Bild verdüstert sich, wenn der Blick auf die hohen Wände und die Überwachungskameras fällt: Der Hof gehört nicht zu einem gemütlichen Altersheim, sondern zum einzigen Seniorengefängnis Deutschlands in Singen am Bodensee, in dem 50 Männer ab 60 Jahren einsitzen.

In der Außenstelle der Justizvollzugsanstalt (JVA) Konstanz herrscht eine größere Bewegungsfreiheit als in anderen Vollzugsanstalten. "Nach außen geschlossen, nach innen offen", lautet das Konzept des 1970 eingerichteten Hauses, sagt Anstaltsleiter Thomas Maus. Zwischen 7.00 Uhr und 20.00 Uhr dürfen die Gefangenen den Hof nutzen, die Zellen sind nur zwischen 22.00 Uhr und 7.00 Uhr versperrt. Die Inhaftierten können den Tagesablauf mitbestimmen und dabei geistig und körperlich mobil bleiben, schließlich sollen sie später straffrei den Alltag bewältigen können.

Ältere haben andere Bedürfnisse

"Der ältere Gefangene hat besondere Bedürfnisse", betont der stellvertretende Leiter der JVA Konstanz, Werner Pleiss. Im Regelvollzug, wo meist die Jungen das Anstaltsleben bestimmen, kämen die Senioren oft zu kurz, meint er. Maus ist überzeugt: "Ältere Leute brauchen mehr Ansprechpartner". So kümmern sich in Singen neben 18 Vollzugsbeamten eine Reihe ehrenamtlicher Betreuer um die Häftlinge. Zudem sind die Besuchszeiten mit sechs Stunden im Monat länger als anderswo. Anstaltsleitung und Betreuer halten auch engen Kontakt zu den Bezugspersonen. "Wir kennen die Familien", sagt Pleiss.

Eine stattliche Zahl Freizeiteinrichtungen können vom Eingesperrtsein ablenken. Neben Bibliothek und Fitness-Raum gibt es Spielegruppen, Gesprächsrunden und Kochkurse. Ergänzt wird das Resozialisierungsprogramm durch eine ganze Reihe von Lockerungen, die je nach Haftzeit und Führung stufenweise gewährt werden: Begleitete Spaziergänge, Einkaufstouren, Schwimmbadbesuche oder eine kurze Familienheimfahrt. Wer sich nützlich machen will, kann Montage- und Verpackungsarbeiten erledigen, in der Küche oder beim Putzen helfen.

Alle sozialen Schichten sind vertreten

In Singen sitzen Senioren aus allen sozialen Schichten ein. Neben Sexualdelikten sind meist Gewalttaten und Betrug der Grund. Der älteste Häftling ist 75 Jahre alt. Etwa ein Drittel hat das halbe Leben hinter Gittern verbracht. Zwei Drittel sind zum ersten Mal im Alter straffällig geworden.

Warum Menschen nach einer lebenslangen, unbescholtenen Existenz plötzlich mit dem Gesetz in Konflikt geraten, ist wenig untersucht, sagt Werner Greve vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen. Deshalb könne man darüber nur spekulieren. Die Erklärungen reichten von Erlebnisarmut über materielle Not bis zu möglichen psychischen und physischen Abbauprozessen.

Gefängnisaufenthalt trifft Ältere härter

Alte Menschen würden eher als Opfer denn als Täter wahrgenommen, weiß Greve. Zudem sei der Anteil Älterer an Straftaten gering. Der Forscher hat anhand der Polizei-Kriminalstatistik von 1997 herausgefunden, dass Personen über 60 Jahre 5,3 Prozent aller Delikte begangen haben, von denen die Hälfte Ladendiebstähle waren. Nur 2,4 Prozent der Gewalttaten entfallen auf diese Altersgruppe.

In Singen machen Gewalttäter etwa ein Viertel der Häftlinge aus. "Ein längerer Freiheitsentzug trifft ältere Leute um vieles mehr", sagt Pleiss. Sie sehen ihren Lebensabend nahen und wissen, dass ihnen die Zeit davonläuft. Da scheinen die kleinen Freiheiten hinter Gittern nur ein schwacher Trost. (pg)