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"Ösis", "Piefkes" und das Paradies

Gerald Heidegger, Redaktionsleiter orf.at9. September 2005

Im deutschen Wahlkampf kommen die Österreicher manchen Politikern gerade recht. Im Nachbarland jenseits der Alpen funktioniere vieles besser, ist da zu hören. Stimmt das? Gerald Heidegger von orf.at gibt Auskunft.

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Nicht alles, was hinkt, ist schon ein Vergleich, sagt man in Österreich manchmal. Doch im Augenblick wird zwischen Österreich und Deutschland verglichen, dass man vor lauter Hinken gar nicht mehr vorankommt.

Vor langer Zeit meinte ja Karl Kraus in Abwandlung eines Mark-Twain-Zitats sinngemäß, der größte Unterschied zwischen Österreich und Deutschland sei die gemeinsame Sprache. Und siehe da: Eine Reihe von Missverständnissen prägt auch die Gegenwart.

Da sprach ein Tiroler Arbeitnehmervertreter von deutschen "Feinden" auf dem heimischen Arbeitsmarkt, warnte der Bundeskanzler vor "Hartz IV"-Flüchtlingen im kuscheligen österreichischen Sozialnetz - und der Kärntner Landeshauptmann Haider sah gar den "Stoiberismus" über Österreich kommen. Was war das Problem? Dass Wahlen im Osten entschieden werden - das ist in Österreich schon auf Grund der Bevölkerungsstruktur beinahe ein "Naturgesetz". Der Wasserkopf Wien ist der Pusta näher als dem Bodensee.

Der "Ösi" fleißiger als der "Piefke"?

Beiden Ländern war einiges zu Kopf gestiegen: den Deutschen ihre eigene Misere und den Österreichern möglicherweise ihre Einkaufstour bei deutschen Unternehmen im letzten Jahr. Fast musste man meinen, Deutschland gehe es so schlecht, dass Millionen Menschen bettelnd auf der Straße sitzen. Und als dann deutsche Medien im Monatstakt den österreichischen Bundeskanzler fragten, warum Österreich so viel besser sei, da musste das Fass überlaufen.

Denn plötzlich erklärten die "Ösis" den "Piefkes", wo der Bartel den Most herholt. Dann kam auch noch eine Studie, die bescheinigte: Die Österreicher haben eine bessere Arbeitsmoral als die Deutschen.

Ja sapperlott, da konnte man vor lauter Freude nur noch schuhplatteln. Beinahe hätte man vor lauter Feiern das neue Wirtschaftswunder verspielt.

Doch Österreich blieb das Paradies, das es jüngst geworden war. 20 Prozent Mehrwertsteuer, und bei H&M wie Ikea sind die Produkte nicht teurer als auf der anderen Seite des Inns. Ein Wunder war geschehen. Da traute sich Angela Merkel gleich, einen Teil des österreichischen Weges in ihr Wahlprogramm zu schreiben.

Sachsen auf der Alm

Dabei müssen wir beichten und gestehen: Liebe deutsche Freunde, wir haben euch betrogen und an der Nase herumgeführt. Wir haben nur so getan, als wären wir nur ein Club Med in den Alpen und allesamt ein Volk fröhlicher Hansi Hinterseers. Dabei gingen wir neben dem Skilehrertum heimlich auch anderen Tätigkeiten nach. Die "Ossis" haben das als Erste gemerkt: Alter Sachse, im alpenländischen Animationsclubs fehlen ja Arbeitskräfte - kein Wunder, die Skilehrer von gestern waren die Banker von heute, und die lockten nicht nur die bayrischen Sparer mit schönen Zinsen und ein bisschen mehr Anonymität beim erworbenen Geld.

Man könnte dieses humoreske Märchen ewig weiterspinnen. Doch es gibt Spielverderber. Etwa den Österreich-Korrespondenten der "Süddeutschen Zeitung", Michael Frank. Er zwang zu einer harten Landung im kippenden Verhältnis der beiden "verfreundeten" Nachbarn. Die Kirche kam zurück ins Dorf. Und erinnert wurde daran, dass etwa die deutsche Steuerquote immer noch niedriger sei als die österreichische. Auch daran, dass nicht das österreichische, sondern das deutsche Arbeitslosengeld I höher ist. Dass es mehr arbeitslose Österreicher in Deutschland gibt als "schmarotzende" Deutsche in Österreich. Auch dass mehr Österreicher in Deutschland arbeiten als Deutsche in Österreich - und das, obwohl ja Österreich zehn Mal weniger Einwohner hat als Deutschland. Österreich musste bekanntlich auch nicht halb Ungarn in seine Volkswirtschaft integrieren.

Das Paradies in Reichweite

Österreich mag so manche Reformchance im Vergleich zu Deutschland aufgegriffen und genutzt haben. Im Tarifrecht wurden schon Mitte der 1990er Jahre Flexibilisierungen umgesetzt, über die man in Deutschland immer noch Wahlk(r)ämpfe führt. Auch die Arbeitsvermittlung wurde hier zu Lande effektiver organisiert - das befanden zuletzt zumindest deutsche Stimmen.

So manche Veränderung fand im Konsens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zwischen Schwarz und Rot statt. Vielleicht ist das ja ein Modell für die Reform des deutschen Föderalismus. Diesen hielt man in Österreich lange Zeit für sehr nachahmenswert - wobei man die historischen Wurzeln dieses Föderalismus elegant überging. Heute darf sich die österreichische Volkswirtschaft darüber freuen, doch nicht zu sehr dem deutschen Beispiel gefolgt zu sein. Denn nicht alles, was bei den Nachbarn glänzt, muss gleich Gold sein. Und auch Deutschland kann beruhigt sein: Das österreichische Paradies liegt noch in Reichweite.