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Lesen als Beruf

Thomas Böhm 15. Oktober 2008

Warum sehen die Menschen hier so unglücklich aus? In meinem zehnten Jahr auf der Buchmesse ist mir eine Antwort eingefallen. Eine Kolumne von Thomas Böhm.

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Impressionen von der Frankfurter Buchmesse (Foto: Frankfurter Buchmesse/Hirth)
Sieht gemütlich aus? Ist aber Arbeit!Bild: Frankfurter Buchmesse/Hirth

Stellen Sie sich die Buchmesse als Traumland des Lesens vor und die Menschen, die hier berufsmäßig unterwegs sind als Inhaber eines Traumjob? Wenn Sie sich diesen Traum erhalten wollen, kommen Sie nicht nach Frankfurt – wo Sie zwangsläufig und nicht nur beim Vorbeigehen an den Bankhochhäusern von der Frage geplagt werden: "Warum sehen die Menschen hier so unglücklich aus?"

Unsystematisch erleben

In meinem zehnten Jahr auf der Buchmesse ist mir eine Antwort eingefallen: Weil wir gezwungen sind zu lesen. Lesen ist unser Beruf, nicht mehr unsere Leidenschaft wie damals mit 13, 14 wo wir noch unsystematisch von einem Buch zum anderen lasen, je unbekannter, verbotener, seltsamer, klassischer, unklassischer ein Titel oder Autorenname klang, umso besser. Und das allerbeste: Es ging bloß ums Erleben.

Klappentexte und Kurzkritik

Von dem Moment an, in dem wir begannen mit dem Lesen Geld zu verdienen, wurde aus dem Erleben der erste Schritt einer Verwertungskette, in der Bücher lektoriert, in einem Klappentext zusammengefasst, kritisiert, verkauft werden. Und in Frankfurt wird aus der Verwertungskette ein Fließband. Hier müssen Klappentexte und Kurzkritik in Fleisch und Blut übergegangen sein, muss der Nobelpreisträger im Nebensatz als deutlich uninteressanter als "dieses Buch hier" klassifiziert werden und jenes da als "zigmal lesbarer als der Buchpreisträger" und "das hier ist DER türkische Roman überhaupt" - schließlich steht das Weihnachtsgeschäft vor der Tür, das über den Geschäftserfolg des Jahres entscheidet.

Traumland mit Adorno

Vielleicht, dachte ich mir heute Mittag, herrscht nur im deutschen Traumland schlechte Laune und ging hinüber in die internationalen Hallen, wo aus dem Beruf "la profession" und "the profession" wird und die Profis aller Länder nicht mit Marx und Adorno über Entfremdung und Verwertung klagen. Am Stand des britischen Penguin-Verlags kam ich mit einem Mitarbeiter ins Gespräch, der die Klassiker betreut. Er wirkte so, als hätte er es gar nötig, mir etwas einzuflüstern. Kultiviert eben. Als wir über das verlorene Jugend-Leseglück sprachen, erinnerte er mich an einen Ausspruch von Friedrich dem Großen: "Die Literatur wird meine letzte Leidenschaft sein." Ich war getröstet: "Leser" ist vielleicht zwar kein Traumberuf – aber er ist unkündbar, auf Lebenszeit.

Thomas Böhm, geboren 1968 in Oberhausen, ist Programmleiter des Literaturhauses Köln. Er gehört der Jury zum Preis 'litravision' an und ist Vorsitzender der Jury zum Deutschen Hörbuchpreis.