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Über das Unbekannte an Dichtern

16. April 2010

Über Buchsortiersysteme, Literatur-Roboter oder Schriftsteller als Autofahrer: Hier schreibt Thomas Böhm Kolumnen aus dem Lesealltag.

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DP Kultur Symbolbild Buchmanieren
Bild: DW

Im Kölner Domcafé gibt es eine spektakuläre Toilette. Denken Sie nicht weiter darüber nach, warum Toiletten überhaupt der Anstrich des Spektakulären gegeben werden muss, oder was das mit dem Domschatten zu tun haben könnte, lassen Sie sich erzählen, dass die Türen der Toilettenkabinen aus Glas bestehen, so dass einiges an Selbstüberwindung vonnöten ist, um sie zu betreten. Drinnen wird das Vertrauen auf die westliche Diskretionskultur jedoch belohnt, denn das Verriegeln der Kabinen löst einen Milchglaseffekt in der Türscheibe aus.

Schreiben als Verdauung hinter Milchglas

Ein Autor mit dem ich einmal im Domcafé Tee trank, meinte, diese Toilette sei ein treffendes Bild für die Arbeit des Schriftstellers: Verdauung der Welt - hinter raffiniertem Milchglas. Tatsächlich kann es im Falle von Dichtern sehr aurazerstörend sein, mit ihrer Körperlichkeit konfrontiert zu werden. Ich erinnere mich an die Begegnung mit dem Autor jener Horror-Romanserie, die ich als 13jähriger verschlang. Das Verschlingen kam zu einem sofortigen Ende, als ich dem Menschen gegenüberstand, den ich mir als blonde Variation von James Bond vorgestellt hatte - und nicht als 50jährigen mit schütterem Haar und komplett verfaulten Zähnen. Mein Professor an der Universität formulierte es dann so: man muss sich entscheiden, was man will: die Bücher oder die Autoren. Das eine ist eine Gefahr für das andere. Sein Beispiel war das Bild des beim Rauchen kein Maß kennenden und deshalb später fußamputierten Heinrich Böll, das sehr schlecht neben einem Werk stand, das sich gegen die Maßlosigkeit der Macht, der Medien etc. gewandt hatte.

Aus dem Unbekannten entstehen die Geschichten

Thomas Böhm Programmleiter des Kölner Literaturhauses
Thomas Böhm Programmleiter des Kölner LiteraturhausesBild: birgit rautenberg

Dem Unbekannten – auch am Dichter - haftet eben der Zauber des Geheimnisses an, aus dem Geschichten wie die folgende entstehen können. Im amerikanischen Bürgerkrieg wurde Präsident Abraham Lincoln in der Nähe eines Schlachtfelds täglich von einem ihm unbekannten Sanitäter gegrüßt. Er grüßte zurück, nicht wissend, dass dieser Sanitäter der große Lyriker Walt Whitman war, den Lincoln verehrte. Was wiederum Whitman unbekannt war. Denn auch dem Wissen der Dichter sind eben Grenzen gesetzt.


Redaktion: Gabriela Schaaf