1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Über den Trennungsschmerz beim Lesen

12. Februar 2010

Über Buchsortiersysteme, Literatur-Roboter oder Schriftsteller als Autofahrer: Hier schreibt Thomas Böhm Kolumnen aus dem Lesealltag.

https://p.dw.com/p/LzjO
Symbolbild Buchmanieren
Bild: DW

Ist Lesen Liebe oder Verliebtheit? Auf flatterhafte Verliebtheit deutet der beständige Wechsel des begehrten Objekts hin; ein Buch nach dem anderen wird von den Buchliebhaberinnen und Buchliebhabern verschlissen.

Treu bleiben sie dabei aber der Literatur selbst, eine Treue, die ein Zeichen von Liebe ist.

Die Bereitschaft, mit den Büchern neue Orte zu erobern, sich in unbekannte Cafés, zu fremden Menschen in Bahnabteile zu setzen und – die Umwelt vergessend – sich in den literarischen Gedankenaustausch zu vertiefen, verweist auf die Selbstgenügsamkeit der frisch Verliebten.

Erfahrene Liebende

Die Bandbreite der Stimmungen, die Erfahrungen, die beim Lesen in Kauf genommen werden, eben nicht nur das verliebte Hochgefühl, sondern auch die Bereitschaft, Krisen, Langeweile, verbale Entgleisungen, Überforderungen auszuhalten und an ihnen zu wachsen, lässt Leserinnen und Leser als lebens- und beziehungserfahrene Liebende erscheinen.

Verliebte erzählen in ihrem Bekanntenkreis von ihrer neuesten Bucherrungenschaft, Liebende hüten ihr Lesegeheimnis, wissend, dass es sich mit anderen nicht teilen lässt, dass es nur zerredet würde.

Literaturverliebte neigen zu der Idee, sie seien selbst zum Schreiben berufen, Liebende sagen auch dazu nichts.

Verliebte trennen sich von einem Buch mit einem bittersüßen Lächeln, legen es beiseite, beginnen schon an das Nächste zu denken, das längst aus dem Bücherregal zurücklächelt.

Liebesbriefe an das Leben

Thomas Böhm Programmleiter des Kölner Literaturhauses (Foto: Birgit Rautenberg)
Thomas Böhm, Programmleiter des Kölner LiteraturhausesBild: birgit rautenberg

Die Liebenden empfinden einen Schmerz je näher die letzte Seite des Buches kommt. Sie sind sich der gemeinsam mit dem Buch verbrachten Lebenszeit bewusst, spüren im Anblick der Leere unter der letzten Zeile den Stich der Endlichkeit. Einem bedauerlicherweise verlorenen Fragment zufolge hatte Jean Jaques Rousseau, eine Regel für Literaturkritiker aufgestellt, die allen Literaturliebenden spontan einleuchtet: Eine starker Trennungsschmerz verweist auf die Qualität eines Buches. Denn was, so Rousseau, sind Bücher schon anderes als Liebesbriefe an das Leben, die durch die Zeit zu uns geschickt werden.

Autor: Thomas Böhm
Redaktion: Gabriela Schaaf