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Über letzte Worte

18. März 2011

Über Buchsortiersysteme, Literatur-Roboter oder Schriftsteller als Autofahrer: Hier schreibt Thomas Böhm Kolumnen aus dem Lesealltag.

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Eine Gabel liegt neben einem aufgeschlagenen Buch (Bild: DW)
Bild: DW

Ein Wort, das für mich nie seine Schönheit und sein Geheimnis verloren hat, ist das Wort "Äther". In meiner Vorstellung ist der Äther eine Sphäre, die irgendwo da draußen in die Unendlichkeit übergeht. Als Kind dachte ich, ich könne die Grenzbereiche des Äthers mit der Drehscheibe des Radios erreichen, indem ich diese nach ganz rechts oder links drehte. Dann erklangen diese piepsenden Geräusche, die abgehakten Stimmen, deren dumpfer Hall erahnen ließ, dass sie von ganz weit her kamen, und dass sie jederzeit verstummen konnten. Sie hatten nicht diese selbstverständliche Präsenz von Digitalstimmen. In ihnen schwangen die Mühen mit, die Sender wie Empfänger betrieben, um miteinander in Kontakt zu bleiben.

Werde ich meinen Enkelkindern noch verständlich machen können, was ich für ätherische Erinnerungen an das Radio habe, wenn es das Radio in Zukunft nur noch als Teil des kreuz- und quermedialen Internets gibt, genauso wie es in absehbarer Zeit keine gedruckten Bücher, sondern nur noch E-Reader geben wird, die neben vielen anderen Nachteilen auch den haben, dass man keine lektürestörenden Insekten mit ihnen erschlagen kann, ohne die Funktionstüchtigkeit seines Lesegeräts aufs Spiel zu setzen.

Auf Leben und Tod

Thomas Böhm (Foto: Birgit Rautenberg)
Thomas BöhmBild: birgit rautenberg

Aber wohlmöglich ist in Sachen Buchdruck wie Radio das letzte Wort noch nicht gesprochen. Im Triumphlärm einer neuen Technik wird gern überdreht: So meinte Thomas Alva Edison, der Erfinder des ersten Tonaufzeichnungsgeräts, das er "Phonograph" nannte: "Zum Zwecke der Bewahrung der Reden, der Stimmen und der letzten Worte von sterbenden Familienmitgliedern - wie von großen Männern - wird der Phonograph fraglos die Fotografie ersetzen." Tatsächlich ist es nie Usus geworden, Mikrophone in die Nähe Sterbender zu bringen. Die Schrift eignet sich letztlich doch besser zur Aufbewahrung letzter Worte als ein Mitschnitt auf Leben und Tod.

Zumal man sich, einem Rat Mark Twains folgend, eh beizeiten seine letzten Worte überlegen, mit Freunden diskutieren und auf einen Zettel schreiben soll, damit man zuletzt nicht auf einen Geistesblitz angewiesen ist, um "etwas Brillantes von sich zu geben und mit Größe in die Ewigkeit einzugehen." Edisons letzte Worte klingen für mich übrigens so, als wäre er ein sentimentaler Radiohörer mit Neigung zum Äther gewesen, so wie ich. Sie lauten: "Es ist sehr schön dort draußen."


Autor: Thomas Böhm
Redaktion: Gabriela Schaaf


Thomas Böhm ist Programmleiter des Gastlandauftritts Island bei der Frankfurter Buchmesse 2011.