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Über vollkommenes Leseglück

3. Dezember 2010

Über Buchsortiersysteme, Literatur-Roboter oder Schriftsteller als Autofahrer: Hier schreibt Thomas Böhm Kolumnen aus dem Lesealltag.

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DP Kultur Symbolbild Buchmanieren
Bild: DW

Wann meinen wir, jemand sei glücklich?

Der englische Philosoph Richard M. Hare gab auf diese Frage die überraschende Antwort: Wenn wir bereit sind, mit diesem Jemand zu tauschen. Zum Beleg für seine Glückphilosophie griff er zu einem drastischen Beispiel: Einen Heroinsüchtigen, der stets ausreichend Heroin bekommt, um seiner Sucht zu frönen, würden wir nicht als glücklich bezeichnen, weil wir eben nicht mit ihm tauschen wollten.

Leseräusche

Schnell Glück und Droge ausgewechselt und schon wird’s spannend. Würden wir jemanden, der immer ausreichend zu lesen bekommt, der sogar in seinem Leben nichts mehr anderes zu tun braucht als zu lesen, als glücklich bezeichnen? Heben wir ab - was für ein Gedanke: Nichts mehr anderes tun als lesen... wieviel Bücher man da noch lesen könnte, was man darin noch erleben könnte: auf einem lebenslangen Literaturtrip.

Zum völligen, philosophisch beglaubigten Leseglück müssten wir aber jemanden finden, der mit uns tauschen wollte. Das wird schwierig, denken wir an die Menschen, die auf unsere Bücherwand schauen und fragten: "Hast Du die alle gelesen?" als hätten wir unsere Lesezeit nicht auf den sonnenbeschienenen Inseln der Muße und Anregung verbracht, sondern in der Strafkolonie.

Franz Kafka als Leseberater

Thomas Böhm Programmleiter des Gastlandauftritts Island bei der Frankfurter Buchmesse 2011
Thomas BöhmBild: birgit rautenberg

Letztlich würden sie gar nicht mal mit uns selbst tauschen wollen. Immer nur lesen... Zum Leseglück gehört doch auch das Unglück dazu, nicht zum Lesen zu kommen. Vielleicht sogar: gar nicht lesen zu wollen. Die Bücher können außerdem die Welt nicht ersetzen, wie einst ein Prager Bekannter Franz Kafkas glaubte. Der korrigierte: "Im Leben hat alles seinen Sinn und seine Aufgabe, die von etwas anderem nicht restlos erfüllt werden kann. Man kann – zum Beispiel – sein Erleben nicht mittels eines Ersatzmanns bewältigen. So ist es auch mit der Welt und dem Buch. Man versucht das Leben in Bücher wie Singvögel in Käfige zu sperren. Doch das gelingt nicht." Franz Kafka als Lebensberater in Sachen Lektüre – und zwar nicht in einem Buch, sondern in Person. Wer wollte da nicht tauschen?

Autor:Thomas Böhm
Redaktion: Gabriela Schaaf

Thomas Böhm ist Programmleiter des Gastlandauftritts Island bei der Frankfurter Buchmesse 2011