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Politik

Überraschend lebendige Wahlarena mit Angela Merkel

Kay-Alexander Scholz
11. September 2017

Das Format Townhall-Meeting mit Spitzenpolitikern hat in Deutschland keinen guten Ruf - weil zu spröde und unecht. Dass es auch anders geht, haben vor allem junge Menschen in der TV-Arena mit der Kanzlerin bewiesen.

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Lübeck ARD-Wahlarena mit Bundeskanzlerin Merkel
Bild: picture-alliance/dpa/D. Reinhardt

Das auflagenstarke Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" titelt in dieser Woche mit dem Slogan "Alles wird gut!", wobei  das "g" mit einem "w" übermalt wurde: "Alles wird Wut!". In Berlin werde die Stimmung im Lande nicht mehr richtig wahrgenommen, so der Tenor der Titelstory. Hintergrund waren die organisierten Gegendemonstrationen bei Merkels Wahlkampfauftritten. Insofern war eine der spannenden Fragen vor der Wahlarena mit Angela Merkel, ob sich diese Beschreibung auch im Fernsehen widerspiegelt.

Nun schon zum 4. Mal stellte sich die Kanzlerin - live - einer Befragung von rund 150 Frauen und Männern im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zur Hauptsendezeit um 20:15 Uhr. Die Teilnehmer saßen in einem Achteck, in der Mitte die Kanzlerin und zwei Moderatoren. Das Publikum sollte einigermaßen repräsentativ ausgesucht worden sein, wie die Macher angekündigt hatten. Allerdings waren sehr viele junge Menschen zu sehen - zu viele eigentlich für eine alternde Gesellschaft mit einem Durchschnittsalter von 45 Jahren. Nicht jeder kam dran, man musste sich melden und wurde dann von den Moderatoren ausgesucht. Auch hier wurden junge Menschen bevorzugt.

Mutige Jugend

Von jugendlicher Schüchternheit aber war nichts zu spüren. Schon bei der ersten Frage ging es zur Sache. Ein junger Mann aus Bayern fragte, was er tun solle: Bei ihm könne er nur die CSU und nicht die CDU wählen. Die aber könne er nicht wählen, weil Merkels Schwesterpartei in Bayern eine Obergrenze für Flüchtlinge wolle. Was erst wie eine Steilvorlage klang und der Kanzlerin die Gelegenheit bot, ihre Ablehnung einer solchen Form der Steuerung von Zuwanderung zu formulieren, ging dann in eine andere Richtung. Er könne ihrer Aussage nicht glauben, sagte der Bayer, weil Merkel vor vier Jahren auch eine Maut für Autobahnen abgelehnt hatte, die nun aber doch komme, wenn auch nur für Ausländer. Merkel versuchte entgegen zu reden, der junge Mann aber war so gut über Merkels damaliges Zitat informiert, dass diese beinahe ins Stottern kam.

Dialoge in dieser Form wiederholten sich oft. Ein andere junger Mann, gerade in der Ausbildung zum Krankenpfleger, berichtete von unwürdigen Zuständen in der Pflege, weil die Leute überlastet seien.  Daraus entwickelte sich ein Fach-Dialog; am Ende wollte der Mann noch immer nicht klein beigeben. Das könne alles so schnell gar nicht funktionieren, wie Merkel jetzt sage, denn die Pflegekräfte würden schließlich nicht vom Himmel fallen, sagte er ziemlich wütend.

Wie umgehen mit Erdogan?

Mutig, nachdenklich und engagiert war auch die Frage eines jungen Autoverkäufers. Viele seiner guten Freunde mit türkischem Migrationshintergrund, die bestens integriert seien, würden trotzdem für Recep Tayyip Erdogan stimmen. "Was haben wir da falsch gemacht?"

Das sei ihre Freiheit, so Merkel, zeige aber, dass wenn es "hart auf hart kommt", sie sich doch nicht integriert fühlten. Die Türkei unter Erdogan aber entwickle sich in "einem ziemlich schnellen Tempo" weg von dem, was sie unter einem Rechtsstaat verstehe. "Und das nennen wir auch beim Namen."

Teilnehmer waren nicht nur Stichwortgeber für Merkel

Ein Student aus München mit persischen Eltern, die seit 40 Jahren in Deutschland leben, berichtete, er werde auf offener Straße gefragt, zu welcher Terrorzelle er gehöre und manchmal mit dem Bus nicht mehr mitgenommen. Merkel empfahl ihm, dagegen zu halten und mutig zu sein.

ARD-Wahlarena mit Bundeskanzlerin Merkel in Lübeck
Die Kanzlerin stellt sich souverän den kritischen Publikumsfragen Bild: picture-alliance/dpa/D. Reinhardt

Ein junger Bremer diskutierte mit der Kanzlerin Feinheiten der Spendenregelungen für Parteien wegen einer als zu groß empfundenen Nähe zwischen Wirtschaft und Politik. Er fragte, warum sich die Politik gerade auch bei Diesel-Autos über Jahre habe reinreden lassen. Am Ende stand Aussage gegen Aussage, weil Merkel dies verneinte.

Ein anderer Teilnehmer erzählte von seinem Traumberuf Kampfpilot. Nun aber habe er Angst vor den rechtsextremen Gruppierungen in der Bundeswehr, von denen er gehört habe. Nachdem Merkel von den politischen Maßnahmen dagegen berichtet hatte, fragte er trotzdem nochmal nach: Es reiche nicht aus, das in den Medien zu benennen, sondern er erwarte direkte Maßnahmen.

Für die Kanzlerin waren es keine einfachen 75 Minuten. Wie üblich aber hatte sie Details zu - fast - jedem politischem Thema, zu jeder beschlossenen Maßnahme parat und parierte fachlich souverän, dort, wo es um Fakten ging. Nur beim Thema Tierversuche kannte sie sich nicht aus, gestand das aber ein und versprach, eine Antwort nachzureichen. Es bringe ja nichts, würde sie jetzt hier irgendetwas radebrechen, also herumreden. Und auch den aktuellen Milchpreis für Bauern wusste sie nicht richtig.

Appell an offene Herzen und gegen Rassismus

Gerade bei den Themen Migration und Integration machte Merkel überzeugend deutlich, dass Deutschland ein Land der Meinungsfreiheit, des offenen Disputs und liberalen Umgangs miteinander sei. Gegen die Mehrheit des Publikums verteidigte sie einen Fragesteller, der seine Angst vor Überfremdung geäußert hatte. Gleichzeitig unterstrich sie aber, dass Rassismus in Deutschland keine Chance haben dürfe. Sie warnte vor Stereotypen, denn irgendwann sei dann jeder Zweite "irgendwie anders". Gleichzeitig müssten Gesetzesverstöße geahndet werden. Doch es gelte, ein offenes Herz gegenüber Menschen zu haben, denen es schlechter gehe, verteidigte Merkel ihre Entscheidung für offene Grenzen in der Flüchtlingskrise. Das sei damals eine humanitäre Notlage gewesen, die sich nicht wiederholen werde.

Am Ende war Merkel überrascht, als die "letzte Frage" gestellt wurde. Auch die Moderatoren hatten eigentlich noch vorgehabt, per E-Mail gestellte Fragen einzubringen. Doch es gab viel zu bereden und dass sich gerade die jungen Teilnehmer in kleinen Dialogen mit Merkel gekonnt stritten, war so bislang eher selten zu sehen im deutschen Fernsehen. Da soll nochmal jemand schimpfen über die Jugend, was man in Deutschland gerne macht. In der Wahlarena legten ihre Vertreter lebendige Auftritte in bester demokratischer Manier hin.

Am kommenden Montag geht es weiter in der Wahlarena - mit Martin Schulz, dem Herausforderer von Merkel von der SPD.