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Ein Hashtag rast um die Welt

Silke Wünsch
22. Januar 2018

Flirt, Anmache oder Übergriff? Sex als Machtfrage, das bringt Menschen weltweit in Rage. Schon 100 Tage währt der Twitter-Hashtag "#MeToo" - ein Ende ist nicht in Sicht. Eine Chronologie.

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#MeToo Protest von Frauen
Bild: Getty Images/S. Keith

Am 15. Oktober 2017 twittert die US-amerikanische Schauspielerin Alyssa Milano diese Sätze:

Und Zehntausende folgen ihr. Anlass für den Hashtag #MeToo sind die erschütternden Nachrichten aus Hollywood ein paar Tage zuvor. Milanos Kolleginnen - auch berühmte - haben ausgepackt: über Dinge, die Jahre, jahrzehntelang im Verborgenen geschehen sein sollen. Danach hat der mächtige Produzent Harvey Weinstein Schauspielerinnen sexuell genötigt und missbraucht. Viele Karrieren waren für die Frauen offenbar erst dann möglich, wenn sie Weinstein gefällig waren. Ganz Hollywood wusste davon - doch es wurde geflissentlich übersehen. Ebenso wie die sexuellen Übergriffe eines Kevin Spacey. Oder die eines Dustin Hoffman. Weinstein ist mittlerweile aus Hollywood verbannt. Kevin Spaceys Karriere ist beendet. Seine erfolgreiche Netflix-Serie "House of Cards" ist eingestellt.

Harvey Weinstein
Mit ihm fing alles an: Harvey WeinsteinBild: Getty Images/AFP/A. Pizzoli

Über Hollywoods Grenzen hinaus, weltweit melden sich Frauen unter #MeToo zu Wort. Und Männer. Schon am ersten Tag wird der Hashtag auf Twitter 200.000 Mal verwendet. Am nächsten Tag sind es schon mehr als eine halbe Million. Frauen und Männer schildern in wenigen Worten, was ihnen widerfahren ist. Allein zu Alyssa Milanos Post kommen Antworten, die selbst - oder gerade - in ihrer Kürze schockieren: "Ich war neun…".

Die Frauen schreiben von Großvätern, Stiefvätern, Chefs, Nachbarn. Und dass der Schmerz auch nach Jahren nicht vergeht. #MeToo trendet in mehr als 85 Ländern und bekommt Ableger in anderen Sprachen. Auch aus der Musikindustrie, der Wirtschaft und der Politik melden sich Betroffene. Namen wie George H. W. Bush, Bill Clinton und Donald Trump fallen, aber auch in anderen Ländern werden hochrangige Politiker beschuldigt.

25. Oktober:

EU-Abgeordnete Terry Reintke fordert eine Untersuchung von Missbrauchsvorwürfen und hält ein Schild mit #metoo in den Händen
Terry Reintke fordert eine Untersuchung von Missbrauchsvorwürfen Bild: Reuters/C. Hartmann

Die grüne Europa-Politikerin Terry Reintke hatte bereits im September offen vor dem Europaparlament in Brüssel geschildert, wie sie in Duisburg Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden war. Im Zuge der #MeToo -Debatte macht das EU-Parlament die Vorfälle im eigenen Haus zum Thema. Es verabschiedet eine Resolution: Fälle von Belästigung und Übergriffen sollen untersucht, aufgeklärt und sanktioniert werden.

1. November:

Der britische Verteidigungsminister Michael Fallon tritt zurück. Er soll laut einem Bericht des "Guardian" im Jahr 2002 bei einem Dinner der Journalistin Julia Hartley-Brewer mehrfach ans Knie gefasst haben, bis sie ihm mit einer Ohrfeige gedroht habe. Nach der Veröffentlichung des Artikels wird die Sache ein Selbstläufer, den selbst die Betroffene nicht mehr aufhalten kann. Sie nämlich findet die Tatsache, dass sie 15 Jahre nach dem Vorfall plötzlich auf den Titelseiten landet, "bizarr", betont, dass sie sich gar nicht als Opfer einer Belästigung fühle: "Meine Knie blieben intakt."

12. November

Mehrere hundert Frauen, Männer und Kinder versammeln sich in Hollywood zum "MeToo Survivors' March". Sie laufen über den Hollywood-Boulevard und protestieren mit Schildern und Spruchbändern gegen sexuellen Missbrauch und Vergewaltigung. Der Weg führt die Demonstranten auch über den Walk of Fame mit den Sternen der Hollywoodstars, unter ihnen auch die Namen derer, die beschuldigt werden.

Demonstration in Hollywood: Solidarität mit Opfern sexueller Gewalt, Frauen tragen ein Transparent mit der Aufschrift "#MeToo Survivers' March"
Demonstration auf dem "Walk of Fame"Bild: picture-alliance/NurPhoto/R. Tivony

1. Dezember:

In der deutschsprachigen Schweiz wird #MeToo zum Wort des Jahres gekürt. Die Jury begründet ihre Wahl so: "Das Wort wirkt 2017 wie kein zweites. Es zeigt an; es zieht lange Verdrängtes ins Licht, es schließt soziale Medien und öffentlichen Diskurs kurz. So findet es innerhalb weniger Tage vom Filmgeschäft in Hollywood in den Alltag hier und jetzt - auch in der Schweiz."

6. Dezember:

Das Time-Magazine kürt wie jedes Jahr die Person des Jahres 2017. Nach Angela Merkel (2015) und Donald Trump (2016) ist es nun die #MeToo -Bewegung mit ihren berühmtesten Vertreterinnen: Etwa die Schauspielerin Ashley Judd oder Pop-Superstar Taylor Swift. Das Magazin betont, dass es bei der Wahl zur Person des Jahres darum geht, Menschen zu würdigen, die - egal in welcher Form - die gesellschaftlichen Debatten geprägt haben. Dies seien in diesem Jahr die unzähligen "Silence Breakers" der #MeToo-Bewegung gewesen.

Das Titelbild der "Time" Person of the year 2017
Bild: Time

14. Dezember

In Deutschland ist die #MeToo -Debatte seit Wochen Top-Thema in den Talkshows. In der Sendung "Maischberger" kritisiert Model und Schauspielerin Sophia Thomalla die #MeToo-Bewegung: "Diese ganze Debatte ist eine Beleidigung für alle echten Vergewaltigungsopfer." Dafür erntet Thomalla heftige Kritik - aber auch Zuspruch, was die Diskussion in Deutschland deutlich widerspiegelt: Unter #MeToo werden nicht nur schlimmste Missbrauchsfälle geschildert, sondern auch Situationen, in denen Männer Frauen nachpfeifen oder längere Blicke zuwerfen. Die #MeToo-Vertreter und -Vertreterinnen werden nicht müde zu erklären, dass es in der Sexismusdebatte nicht um die Art des Übergriffs geht, sondern darum, dass Männer sich Übergriffe jeglicher Art einfach und wie selbstverständlich erlauben.

3. Januar 2018 

Nun trifft es den ersten deutschen Prominenten: Schauspielerinnen und frühere Mitarbeiter werfen dem Regisseur Dieter Wedel gewalttätige und sexuelle Übergriffe in den 1990er Jahren vor. Wedel, der damals für sehr erfolgreiche deutsche TV-Filme und -Serien verantwortlich war, war bekannt für sein hartes Regime am Set. Nun erzählten mehrere Schauspielerinnen von unschönen Szenen in Hotelzimmern, von Nötigung bis hin zur Vergewaltigung. Wedel selbst streitet alles ab und will sich juristisch zur Wehr setzen.

6. Januar

Oprah Winfrey hält ihre Rede bei der Golden Globes-Verleihung
"Time's up!" sagt Oprah Winfrey bei der Golden Globes-VerleihungBild: Reuters/NBC/P. Drinkwater

In Los Angeles werden die Golden Globes vergeben. Es sind neben dem Oscar die wichtigsten Preise der US-Filmindustrie. Fast alle Gäste erscheinen in Schwarz, als Zeichen der Solidarität mit der #MeToo-Bewegung und den Opfern von sexueller Gewalt. Die Talkmasterin Oprah Winfrey hält eine flammende Rede. "Zu lang wurden Frauen nicht angehört oder ihnen wurde nicht geglaubt, wenn sie den Mut hatten, gegen die Macht von Männern aufzubegehren. Aber deren Zeit ist um!" Sie wolle, dass niemand mehr "Me too" sagen müsse. Winfrey begeistert das Publikum und die Fernsehzuschauer so sehr, dass viele sie gerne als Kandidatin für die nächste Präsidentschaftswahl in den USA sehen würden.

9. Januar

Die französische Schauspielerin Catherine Deneuve und rund 100 weitere prominente Frauen veröffentlichen in der französischen Zeitung "Le Monde" einen Brief, in dem sie die "Denunziations-Kampagne" gegen Männer scharf kritisieren. "Vergewaltigung ist ein Verbrechen, aber zu versuchen, jemanden zu verführen, selbst hartnäckig, ist es nicht", heißt es in dem offenen Brief. Damit erntet sie lautstarke Kritik. Wenige Tage später entschuldigt sie sich. Doch nur kurze Zeit später meldet sich eine weitere berühmte Kollegin: Brigitte Bardot sagt am 17. Januar im Magazin "Paris Match": "Was Schauspielerinnen angeht, und nicht Frauen im Allgemeinen, ist das in der großen Mehrheit der Fälle scheinheilig, lächerlich, uninteressant", meint sie und fügt hinzu, dass viele Schauspielerinnen heftig mit Produzenten flirten, um eine Rolle herauszuschlagen. "Danach erzählen sie, dass sie belästigt wurden, damit man über sie redet."

Schauspielerin  Catherine Deneuve
Catherine Deneuve hat eine höhere ToleranzgrenzeBild: picture-alliance/dpa/G. Fischer

Die Opfer des Harvey Weinstein sehen dies sicher anders. Vor 100 Tagen ist die #MeToo-Debatte losgegangen - und sie ist noch lange nicht am Ende.