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17 Millionen Opferschicksale archiviert

Peter Philipp24. April 2006

Der "Internationale Suchdienst" des Roten Kreuzes für Opfer des Nationalsozialismus in Deutschland ist bisher nur Opfern und Angehörigen von Opfern zugänglich. Bald soll das Archiv für Wissenschaftler geöffnet werden.

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Archivleiter Jost bei der RechercheBild: AP

Die Schränke mit Karteikästen gehen bis an die Decke und füllen drei Räume. Auf den Karten sind die Namen von über 17 Millionen Opfern des Nationalsozialismus registriert und Angaben, wo man Dokumente über die Betreffenden finden kann. Diese Dokumente würden aneinandergereiht eine Länge von fast 26 Kilometern erreichen - die sicher umfangreichste Sammlung dieser Art.

Deutschland will Holocaust Archiv öffnen
Über 17 Millionen Opferschicksale sind hier archiviertBild: AP

Der "Internationale Suchdienst" im hessischen Bad Arolsen ist allerdings kein "Holocaust-Dokumentationszentrum", wie Udo Jost, Koordinator für Ordnungsarbeiten in Arolsen, betont. "Der Dienst ist geschaffen worden zur Sammlung, Aufbewahrung und Auswertung von Dokumenten der Opfer des Nationalsozialismus. Und die sind natürlich nicht nur ausschließlich Holocaust-Opfer, sondern das sind die Inhaftierten aus politisch, rassisch, religiösen Gründen in den unterschiedlichsten Haftstätten."

Seit Jahren bemühen sich Wissenschaftler, bemüht sich aber auch die Leiterin der Gedenkstätte Buchenwald um Zugang zu der immensen Dokumentensammlung, zu der übrigens auch "Verlegungs-Listen" gehören, die "Schindlers Liste" belegen. Diese Unterlagen wurden ihnen bisher aber nicht geöffnet. Nur Überlebenden der Konzentrationslager oder ihre direkten Verwandten dürfen sie einsehen.

Zypries für Öffnung

61 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und der Befreiung der Lager könnte diese restriktive Politik des "Suchdienstes" nun ein Ende nehmen: Bundes-Justizministerin Zypries verkündete dieser Tage in Washington, dass die Bundesregierung einer Öffnung von Arolsen für die Wissenschaft zustimmen wolle. Eine endgültige Entscheidung sei dies allerdings noch nicht. Die werde erst bei der Sitzung des Internationalen Ausschusses am 16. Mai in Luxemburg fallen, meint Udo Jost, der nicht etwa von der Bundesregierung, sondern aus der Presse davon erfuhr.

Der Internationale Ausschuss - ein Gremium von Vertretern aus elf Staaten - ist seit den "Bonner Verträgen" von 1955 als Aufsichtsbehörde verantwortlich für die Einhaltung der Grundlagen des Suchdienstes. Mit der Leitung des Dienstes ist das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Genf beauftragt. Der Internationale Ausschuss hatte sich bereits 1998 grundsätzlich auf die Öffnung der Archive geeinigt. Die Umsetzung scheiterte dann aber immer wieder an der Schwierigkeit, eine einheitliche Regelung für den Zugang zu finden, "so dass potenzielle Nutzer der Information sie so nutzen, dass die schutzwürdigen Belange der darin aufgeführten Personen oder ihrer Familien nicht verletzt werden", erklärt Jost. "Und da gab es bisher unterschiedliche Auffassungen, weil es ja in elf Ländern auch unterschiedliche Regelungen gibt." Dennoch ist sich Jost sicher, dass man schnell zu einem Konsens kommen und die Nutzung rasch zulassen werde.

Humanitäre Betreuung der Opfer

Geschützt werden sollen besonders die medizinischen, politischen und oft auch erfundenen anderen Angaben, die die Nazis in den Dokumenten auflisteten, um die Inhaftierung der Betroffenen zu rechtfertigen. Diese Angaben dürften nun nicht einfach der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, besonders dann nicht, wenn die betreffenden Personen noch leben sollten. Von Anfang an stand die humanitäre Betreuung der Opfer im Vordergrund, nicht aber die wissenschaftliche Aufarbeitung der Vergangenheit, erst recht nicht Pressearbeit. Mit ein Grund dafür, dass man in Arolsen jahrelang eher unter Ausschluss der Öffentlichkeit gearbeitet hat und die Rotkreuz-Zentrale in Genf Medien-Kontakte eher restriktiv behandelt.

Im Vordergrund - so versichert man in Arolsen - stehe nun einmal der Suchdienst. Und der ist auch sechs Jahrzehnte nach Kriegsende weiterhin vollauf beschäftigt: Die rund 350 Mitarbeiter des Dienstes haben allein im vergangenen Jahr über 150.000 individuelle Anfragen aus 62 Ländern erhalten. Insgesamt sind bisher über 10 Millionen Anfragen beantwortet worden - mehr als 400.000 Anfragen müssen noch aufgearbeitet werden.

Interesse nimmt wieder zu

Der Suchdienst war einst als vorübergehende Einrichtung konzipiert worden. Doch jetzt ist man dabei, das Archiv zu digitalisieren und richtet sich auf die Öffnung für Wissenschaftler ein: Aber man ist auch in Arolsen überrascht, dass das Interesse an den hier gesammelten Dokumenten in letzter Zeit wieder zunimmt. Heute sind es kaum noch Überlebende, die eine Bescheinigung für die Behörden brauchen, heute sind es immer mehr die Enkel, die mehr über ihre Großeltern erfahren wollen. Und künftig werden es wohl auch Wissenschaftler sein, die ihre Arbeit mit Hilfe des Suchdienst-Archivs komplettieren wollen.