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Politik

EU verspricht mehr soziale Rechte

17. November 2017

Die Europäische Union zeigt sich sozial: Faire Löhne und faire Jobs für alle. Wie die Staats- und Regierungschefs das schaffen wollen, blieb beim EU-Sozialgipfel in Schweden wolkig. Von Bernd Riegert, Göteborg.

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EU Sozialgipfel in Göteborg
Bild: DW/B. Riegert

Für die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union war dieser Sozial-Gipfel in einer renovierten Fabrikhalle im Hafen von Göteborg ungewöhnlich. In drei Gruppen saßen die Mächtigen Europas mit Experten und Vertretern gesellschaftlicher Gruppen in engen Stuhlkreisen beisammen, ohne Mitarbeiter, ohne Unterlagen, um über faires Wachstum und faire Jobs in der EU nachzudenken. "Das ist ein bisschen wie in der Schule hier. Bitte zeigen Sie auf, wenn Sie etwas sagen wollen", gab einer der Moderatoren den Regierungschefs auf den Weg.

Der erste Rüffel ließ nicht lange auf sich warten. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron sprach mit sechs Minuten doppelt so lange wie erlaubt. Der ungarische Premier Victor Orban und der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras, die neben Macron saßen, amüsierten sich köstlich. "Das war auch einmal ein soziales Erlebnis für die Staats- und Regierungschefs auf diesem Sozialgipel in Göteborg", freute sich ein EU-Diplomat, der die Stuhlkreis-Idee mitentwickelt hatte.  

EU Sozialgipfel in Göteborg
Sechs Minuten: Frankreichs Präsident Macron sprach deutlich zu langeBild: Getty Images/AFP/M. Ludovic

"In Menschen investieren"

In der Sache waren sich die 25 Staats- und Regierungschefs, die an dem Sondergipfel zum Arbeitsmarkt der EU teilnahmen, weitgehend einig. Die EU muss mehr tun, um junge Menschen für den digitalen Arbeitsmarkt fit zu machen und lebenslanges Lernen zu ermöglichen. Dazu sollen Investionsfonds genutzt werden. "Wir können nicht nur in Infrastruktur, Brücken und Autobahnen Geld stecken, wir müssen in Menschen investieren", sagte der französische Präsident. In der EU gibt es rund 15 Millionen Schulabbrecher und bis zu 60 Millionen Menschen, die nicht die grundlegenden Qualifikationen haben, um eine Arbeit aufzunehmen. "Da müssen wir ansetzen", meinte Macron. Ausbildung und Arbeitsmarkt müssten nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa aneinander angepasst werden. Es gehe nicht darum, mit schlechten Arbeitsbedingungen in den gegenseitigen Konkurrenzkampf zu treten.

Symbolbild Digitaler Arbeitsplatz
Lebenslange Ausbildung als Schlüssel: Alle fünf Jahre alles neu lernenBild: Colourbox

"Soziales Dumping" dürfe es auch im Weltmaßstab nicht geben, mahnte der italienische Ministerpräsident Paolo Gentiloni. "Arbeitsplätze werden nur durch Wirtschaftswachstum geschaffen. Wir müssen alle Instrumente für Wachstum einsetzen." Zwischen den Ansprüchen der Jungen und denen der Alten auf dem Arbeitsmarkt müsse eine Balance gefunden werden, sagte Gentiloni. Victor Orban, der Ministerpräsident von Ungarn, erteilte einem europäischen Modell für alle eine Absage. "Es gibt ganz tolle Ideen. Die Frage ist aber, ob man daraus Modelle machen kann, die in jeder Nation funktionieren", so Orban. Für ihn sei das ungarische Modell, das auf Vollbeschäftigung ziele, aber auf Migration und Einfluss von außen verzichte, sehr erfolgreich.

EU proklamiert "sozialen Pfeiler"

In Anwesenheit der  Staats- und Regierungschefs proklamierten die EU-Kommission, das EU-Parlament und der EU-Ministerrat feierlich noch einmal 20 Ziele für die Sozialpolitik der Europäischen Union. Die Ziele dieses "sozialen Pfeilers" der Union reichen vom Recht auf Ausbildung über das Recht auf Kinderbetreuung, faire Arbeitsbedingungen, gerechte Löhne bis hin zu angemessenen Wohnungen. Konkrete Beschlüsse, wie diese Ziele erreicht werden sollen, wurden bewusst nicht gefasst, sagte die EU-Kommissarin für den Arbeitsmarkt, Marianne Thyssen. Die Mitgliedsstaaten müssten jetzt Aktionspläne verabschieden und selbst arbeiten. Die EU-Kommission könne nur Empfehlungen geben. Eine Zentralisierung der Sozialpolitik könne es nicht geben. "Wir wollen keine Sozial-Union, sondern eine Union der sozialen Standards", sagte der Präsident der EU-Kommisson Jean-Claude Juncker.

Frankreich Paris Proteste gegen französische Regierung
Nicht alle sind überzeugt: Proteste gegen Arbeitsmarktreformen in FrankreichBild: Getty Images/AFP/L. Bonaventura

Der "soziale Pfeiler" der EU sei ja ganz nett, meinte die schwedische Studentin Rebekka Hillmann, die an dem Gipfeltreffen teilnehmen konnte. Sie frage sich aber, warum die Probleme so isoliert betrachtet würden. Die sozialen Fragen müssten auf jeden Fall mit Klimaschutz und Migration verknüpft werden. "Die Zuwanderung, die durch Klima-Flüchtlinge in den nächsten Jahrzehnten verursacht werden wird, wird die wahre Herausforderung für Europa", sagte Rebekka Hillmann der DW.

Die 20 Ziele im "sozialen Pfeiler" seien sehr zu begrüßen, sagt auch der Europäische Gewerkschaftsbund. "Jetzt kommt es darauf an, daraus auch etwas Konkretes zu machen und die besseren Arbeitsbedingungen zu implementieren", sagte Esther Lynch, die Generalsekretärin des Gewerkschaftsbundes. "Dann könnten auch diejenigen wieder hoffen, die vom derzeitigen Aufschwung nicht profitieren und nach der Finanzkrise ins Abseits geraten sind."

Gipfel ohne Deutschland

Zypern, Finnland und Deutschland waren auf dem Sozialgipfel nicht vertreten. Der Premierminister von Portugal, Antonio Costa, kritisierte das Fernbleiben von Bundeskanzlerin Angela Merkel. "Sie vernachlässigt die wichtigen sozialen Fragen", sagte Costa. Merkel zog es vor, die Koalitions-Sondierungen in Berlin zu beaufsichtigen. EU-Diplomaten beschwichtigten, Kommissionspräsident Juncker sei nicht enttäuscht über Merkels Absage. "Die Hauptsache ist, dass Deutschland voll hinter der Sozialpolitik der EU steht", so ein EU-Diplomat. Das habe die Kanzlerin Jean-Claude Juncker mehrfach versichert.

EU Sozialgipfel in Göteborg
Schräger Blick im Stuhlkreis: Der griechische Ministerpräsident Zipras (2.v.r.) Bild: Getty Images/AFP/M. Ludovic

In der EU bestehen unter den Mitgliedsstaaten große Unterschiede beim Lebensstandard und auf den Arbeitsmärkten. Gastgeberland Schweden gehört zu den reichsten Staaten mit den höchsten Sozialstandards. Gewerkschaftsvertreter Karl Peter Thorwaldson wies darauf hin, dass Schweden trotzdem oder gerade deshalb weltweit konkurrenzfähig sei. "Wir haben den höchsten Mindestlohn der Welt. Das ist wahre Poesie für einen Gewerkschaftler", meinte Thorwaldson. Die Diskussion in Göteborg findet auf einem sehr hohen sozialen Niveau statt, schreiben auch die Experten der EU-Kommission in den Unterlagen für den Sozialgipfel. Verglichen mit anderen Weltregionen, etwa Afrika oder Asien, bieten alle 28 EU-Staaten eine sehr hohe soziale Absicherung. Die Rechte von Arbeitnehmern seien nirgends größer als in Europa.

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union