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Gesellschaft

547 Regensburger Chorknaben misshandelt

18. Juli 2017

"Gefängnis", "Hölle", "Konzentrationslager": Der Abschlussbericht zeigt das volle Ausmaß des sexuellen Missbrauchs bei den weltbekannten Domspatzen. Eine schwere Aufgabe für den Berichterstatter, Anwalt Ulrich Weber.

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Deutschland Abschlussbericht zu Missbrauchskandal bei Regensburger Domspatzen
Der mit der Aufklärung beauftragte Jurist Ulrich Weber Bild: picture alliance/dpa/A. Weigel

Willkür und Druck und zu harte Bestrafung. Als Rechtsanwalt Ulrich Weber (Artikelfoto) die über Jahrzehnte praktizierten Missstände in der Vorschule der Regensburger Domspatzen schildert, zitiert er Aussagen von Opfern. "Gefängnis", sagt er, "Hölle" oder "Konzentrationslager". Viele der Betroffenen sprächen im Rückblick von der "schlimmsten Zeit ihres Lebens". 

Dokument des Grauens

Vor gut sieben Jahren erschütterte das Bekanntwerden von vielfachen Fällen sexueller Gewalt in kirchlichen Einrichtungen ganz Deutschland. Es begann mit dem Berliner Canisius-Kolleg, einer Jesuitenschule. Weitere Beispiele, in Ordenseinrichtungen oder Pfarreien, folgten. Einige Monate später kamen auch die Domspatzen, der weltbekannte Chor aus Regensburg, in den Blick. Über Jahre tat sich das Bistum schwer mit einem ehrlichen Blick und mit Aufklärung. Erst 2015 begann der Jurist Ulrich Weber im Auftrag der Diözese die systematische Arbeit. Er legte nun seinen Abschlussbericht vor. Gut 440 Seiten sachlicher Klärung und zugleich ein Dokument des Grauens.

Körperliche und sexuelle Gewalt

Demnach werden 547 Opfer in ihren Schilderungen als "hoch plausibel" eingestuft. 500 davon erlitten körperliche Gewalt, 67 auch sexuelle Gewalt. Weber sagt, er sehe "keinen Anlass", die von ihm im Januar 2016 genannte "Dunkelziffer von insgesamt 700 Opfern nach unten zu korrigieren". Einige Opfer seien bereits verstorben, andere wollten dieses dunkle Kapitel ihres Lebens nicht mehr aufrühren.

Deutschland Regensburger domspatzen
Nachwuchschor der Regensburger Domspatzen bei einem Festival in Würzburg Bild: picture alliance/dpa/D. Ebener

Die Übergriffe auf die Sängerknaben sollen sich vor allem in den 1960er und 1970er Jahren zugetragen haben. Bis 1992 habe es laut Angaben von Opfern durchgängig Gewalt gegeben.   

Kultur des Schweigens 

Die Gewaltexzesse seien durch eine "Kultur des Schweigens" verdeckt worden, beklagt Weber. Generell müsse man davon ausgehen, dass fast alle Verantwortungsträger zumindest ein Halbwissen über die Vorfälle hatten. Insgesamt habe man 49 Beschuldigte ausmachen können. 

Egal ob 547 oder bis zu 700 Missbrauchsfälle - bei den Domspatzen handelt es sich um den bislang größten derartigen Skandal in der katholischen Kirche in Deutschland. Dass die Aufklärung dabei viel länger dauerte als zum Beispiel bei den Jesuiten-Schulen, liegt auch an großen Namen. Fast unheimlich wirkt es da, wenn Weber bei der Vorstellung des Berichts jeweils nur "Domkapellmeister R." und "Bischof M." nennt.

R und M

Bis 1994 war Georg Ratzinger als Domkapellmeister Chef des Chores; der heute 93-jährige Priester ist Bruder des emeritierten Papstes Benedikt. Und bis Mitte 2012 war Gerhard Ludwig Müller Bischof von Regensburg. Dann stieg der nun 63-Jährige zum Präfekten der Römischen Glaubenskongregation auf und bekam später die Kardinalswürde. Den Job als Glaubenshüter ist er übrigens los. Anfang Juli verzichtete Papst Franziskus auf seine weiteren Dienste. 

Regensburger Domspatzen Papst Benedikt XVI Georg Ratzinger
Georg Ratzinger (l.) und sein Bruder Papst Benedikt 2005 bei den Domspatzen Bild: picture-alliance/abaca/E. Vandeville

Georg Ratzinger hatte 2010 eingeräumt, vor Jahrzehnten selbst Ohrfeigen verteilt zu haben. Die Aufarbeitung des Skandals nach Jahrzehnten bezeichnete er 2016 als "Irrsinn". Der Abschlussbericht wirft ihm nun "Wegschauen' bzw. fehlendes Einschreiten trotz Kenntnis" vor. Dabei gehe es um körperliche Gewalt, von sexueller Gewalt habe Ratzinger wohl nichts gewusst. Mindestens ebenso deutlich fällt das Urteil über Kardinal Müller aus, dem als Bischof "eine klare Verantwortung für die strategischen, organisatorischen und kommunikativen Schwächen der Aufarbeitung" zukomme.

Das sei unter seinem Nachfolger Rudolf Voderholzer nach anfänglichem Zögern anders. Seit Ende 2014 sorge der durch direkte Kommunikation mit Opfern und öffentliche Worte für "positive Impulse", weiß Weber zu berichten.

Regensburger kirchliche Landschaft 

So scheint auch der Ort der Präsentation der Aufklärungsergebnisse wie mit Bedacht gewählt. Zur Pressekonferenz hat man in einen Konferenzraum der Continental-Arena geladen, dem neuen Stadion des örtlichen Fußballvereins. Es liegt am Rande der Stadt, gut drei Kilometer vom Dom entfernt, jenseits der Autobahn. Aber es sind - in die ein oder andere Richtung - auch nur wenige Schritte oder wenige Gehminuten bis zu jener Wiese, auf der der damalige Papst Benedikt beim Besuch seiner bayerischen Heimat 2006 eine große Messe feierte, und bis zu jenem Hörsaal der Uni Regensburg, in der das Kirchenoberhaupt eine weltweit beachtete Rede hielt und das Thema Gewalt streifte. Gewalt im Islam, nicht in der Kirche.

Und das Wohnhaus des damaligen Professors Joseph Ratzinger im nahen Pentling, der von Regensburg in die Welt hinauszog und in der Kirche aufstieg bis zum Amt des Papstes, ist kaum weiter entfernt. Mitten zwischen diesen Orten nun das offene Wort.

Deutschland Abschlussbericht zu Missbrauchskandal bei Regensburger Domspatzen
Nach all den Jahren seinen "Frieden" gefunden: Missbrauchsopfer Alexander Probst bei der Pressekonferenz Bild: picture alliance/dpa/A. Weigel

Zufriedene Reaktionen

Und es gibt durchaus positive Signale. Mehrere Opfer folgen der Pressekonferenz, sie zeigen sich im Anschluss zufrieden mit der (wenn auch späten) Aufarbeitung des Missbrauchs. Alexander Probst, der 1968 als achtjähriger Bub zu den Domspatzen kam und sexuell misshandelt wurde, meint anschließend, angesichts der Gesamtzahl und der Dimensionen der Missbrauchsfälle spüre er "wirkliche Erschütterung". Aber er habe seinen Frieden gefunden. Und Peter Schmitt, der ein Jahr später Domspatz wurde und Schläge erlebte, resümiert, der Chor habe sich verändert in den vergangenen Jahren. Heute gebe es ein ausgebautes Konzept an Präventionsmaßnahmen.

Auch vom Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, erhalten die Aufklärer an diesem Dienstag Lob. Der jetzt eingeschlagene Weg sei "vorbildlich", sagte er der Katholischen Nachrichten-Agentur. Nun hoffe er auch auf eine Entschuldigung von Kardinal Müller.

300 Anträge auf Entschädigung

Zur Aufarbeitung gehört auch Entschädigung. Die ersten 50 Opfer bekamen nach entsprechendem Antrag zwischen 5000 und 20.000 Euro. 450.000 Euro wurden ausgezahlt, mehrere Millionen sollen es werden. Bis Jahresende soll ein Großteil der bislang vorliegenden 300 Anträge bearbeitet sein. Längst nicht alle Opfer stellten überhaupt einen Antrag, erläutert Barbara Seidenstücker, Regensburgerin Erziehungswissenschaftlerin und Expertin für Jugendhilfe, die im zuständigen Gremium des Bistums mitwirkt.