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6 Milliarden Andere - ein Fotograf bringt die Bürger der Welt zum Sprechen

Suzanne Krause / Ba15. Januar 2009

Es begann mit einem kaputten Hubschrauber: Als der Fotograf Yann Arthus-Bertrand auf Reportagereise in Mali liegenblieb, kam er mit Dorfbewohnern ins Gespräch - Start für ein Kunstwerk mit Menschen aus der ganzen Welt

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Ausstellungsbesucher betrachten Porträts von Menschen, die der Fotograf Yann Arthus-Bertrand weltweit gemacht hat - die Porträts sind auf eine riesige Leinwand unter einer Kuppel des Pariser Palais Royal projiziert
Menschen-Porträts aus der ganzen Welt: Die Pariser Ausstellung "6 Milliarden Andere" von Yann Arthus-BertrandBild: Yann Arthus-Bertrand

Unter der imposanten Glaskuppel des ehrwürdigen Grand Palais in Paris empfängt ein babylonisches Stimmengewirr den Besucher. Es tönt in sechzig Sprachen unter einer runden Kuppel, die in drei Meter Höhe installiert wurde. Dabei handelt es sich um eine gigantische Leinwand, auf die Porträtaufnahmen tausender Menschen projiziert werden: ein riesiges Mosaik. In rhythmischen Abständen wird ein Foto herangezoomt, vermittelt der Porträtierte seine Botschaft. Auge in Auge mit der Kamera, die nur das Gesicht und das Mienenspiel einfängt, erzählt Sabine, Mittdreißigerin aus Berlin, sie glaube nicht mehr an Gott, "seit ich meine Mutter unter großen Schmerzen habe sterben sehen". Jetzt blinkt gegenüber das Abbild von Loic aus Frankreich auf: Seine größte Angst, gesteht er, sei, "zu begreifen, dass Gott wirklich existiert". Gleich antwortet Erick aus Kuba: Was ihm am meisten Angst mache, sei, "dass Gott eventuell nicht existiere"... Unablässig defilieren so Bilder und Aussagen über die Kuppel-Leinwand. Jeder der Gefilmten hat seine eigene Antwort auf Fragen wie: Was ist Liebe, was haben die Eltern vererbt, was ist der Sinn des Lebens, was ist Glück?

Nomaden-Zelte, sogenannte Jurten, in der Ausstellung "6 Milliarden Andere", unter der lichtdurchfluteten Kuppel des Parises Gran Palais
Diskussionen im Globalen DorfBild: Yann-Arthus-Bertrand

Globales Dorf und die Fragen des Lebens

Um die tönende Kuppel reihen sich ein gutes Dutzend Jurten, runde Nomaden-Zelte. Intime Nischen, abgedunkelt, mit Videoschirm und ein paar Sitzplätzen. Jede Jurte ist einem Thema gewidmet. Die Palette reicht von "Kindheitserinnerungen" über "Erste Liebe", "Geld", "Heimat" bis hin zu "Wut". Alles Stichworte aus dem Fragebogen, den die Projektmitarbeiter in den vergangenen fünf Jahren insgesamt fünftausend Menschen in 75 Ländern vorlegten. Die Idee dazu hatte der französische Fotograf Yann Arthus-Bertrand, der sich zur Jahrtausendwende international einen Namen machte mit seinen Bildern der Erde aus der Vogelperspektive. "Von oben sind fast alle Grenzen unsichtbar", hat der sechzigjährige Künstler beobachtet, "aber dennoch fällt es den Menschen schwer, zusammenzuleben. Ich möchte wissen, warum das so ist." Während seiner Reportagereisen um die Welt musste Arthus-Bertrand einmal in einem Dorf in Mali 24 Stunden auf die Reparatur seines Helikopters warten. Gelegenheit, mit den Dorfbewohnern ins Gespräch zu kommen. Das war die Initialzündung für das Projekt "6 Milliarden Andere". Arthus-Bertrand beschloss, Bürger dieser Welt zu porträtieren, die sonst nie zu Wort kommen. Und die Menschheit, respektive die Ausstellungsbesucher, mit ihren Aussagen zu konfrontieren.

Familie – Glücksquelle oder Gefängnis?

Kinder betrachten das auf eine Leinwand projizierte Porträt eines indischen Mädchens
Die Jurte zum Thema "Familie"Bild: Yann-Arthus-Bertrand

Im ersten Zelt im Grand Palais geht es um "Familie". Auf der Leinwand berichtet ein junger Mann aus Algerien, die untere Gesichtshälfte mit einem Schal verhüllt, er hasse die Familie: "Sie zwingt mir ungeliebte Traditionen auf". Eine Holländerin um die 40 meint, Familie sei ein Hafen der Sicherheit und gleichzeitig ein Gefängnis. Ein alter Mann, unübersehbar Opfer der Atombombe in Hiroshima, ist froh, eine Frau gefunden mit ihr drei gesunde Kinder zu haben. Einem wie ihm "schien das eigentlich verwehrt". Eine junge Frau aus Mali hat dafür gebetet, ein Kind zu kriegen: "Damit jemand für mich sorgt, wenn ich alt und schwach bin".

Die Emotionen der Menschheit

Der Fotograf Yann Arthus-Bertrand steht vor einem Baum
Verantwortung für die Welt übernehmen: Der Fotograf Yann Arthus-BertrandBild: picture-alliance/abaca

Banale Aussagen stehen neben intimen Beichten von Mensch zu Mensch. Doch im Gegensatz zu den ach so modischen Reality-Fernsehshows präsentiert sich hier keiner als Star. Viele Aussagen gehen zu Herzen, erläutert Yann Arthus-Bertrand. Häufig habe er abends mit seiner Frau zusammen die Filmausbeute durchgeschaut: "Da saßen wir beide auf der Couch und heulten, während wir Leute sahen, die vom Glück sprachen." Na ja, resümiert er: "ich bin eh nah am Wasser gebaut."

Unter den fünftausend Protagonisten der Ausstellung: die Hopi-Indianerin, der Pfarrer aus Deutschland, die Karrierefrau aus Texas, der Bauer aus Indien, der Wirtschaftsflüchtling aus Kamerun, die Rentnerin aus Russland. Vom Teenager bis zum Greis. Vom Bettler bis zum Banker. Jeder ist einmalig. Doch in den Gefühlen sind sie alle gleich. "Liebe und Hass, Tränen und Lachen sind das, was alle Menschen gemeinsam haben", sagt der Fotograf. Tatkräftige Hilfe beim Casting rund um den Globus leisteten die Vereinten Nationen sowie die humanitäre Organisation Ärzte der Welt. Bei der Pariser Ausstellung werden auch Nichtregierungsorganisationen Debatten organisieren. "Die Botschaft ist wohl folgende: Werden Sie aktiv!", fordert Yann Arthus-Bertrand die Zuschauer auf. Denn "die Welt steuert direkt in die wirtschaftliche und ökologische Katastrophe. Dagegen hilft nur tatkräftiger Einsatz."

Liebe ohne Grenzen

Am Rande des Jurtendorfes sitzt die elfjährige Louise im Container-Filmstudio und erzählt aus ihrer frühen Kindheit, um die Datenbank zu bereichern. Der Webseite "6 Milliarden Andere" zuliefern kann auch jeder per Computer von zu Hause aus. Im Pariser Grand Palais endet der Rundgang in der Jurte "Botschaften". Da spricht der weißhaarige Rodrigo aus Spanien vom Bildschirm direkt die Zuschauer an. Fragt sie, ob sie den Eindruck hätten, zur Menschheit zu gehören: "Wenn ja, fühlen Sie, dass wir Brüder sind?", und fährt fort: "Und wenn Sie sich wie mein Bruder fühlen, lieben Sie mich? Ich antworte darauf: ich liebe Sie!"

Die Ausstellung im Pariser Grand Palais läuft bis 12.02.09