1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Für mehr Demokratie

Sarah Mersch12. September 2012

Die Nichtregierungsorganisation Al Bawsala aus Tunesien will die Arbeit der Volksvertreter nach der Revolution überwachen. Ihr Vorbild: das deutsche Portal "Abgeordnetenwatch".

https://p.dw.com/p/166j9
Ein Screenshot der Internetseite marsad.tn. (Quelle: http://marsad.tn, Eingestellt 12.09.2012)
Bild: marsad.tn

Mitten im Stadtzentrum, direkt neben dem lebhaften Markt von Tunis, hat die Nichtregierungsorganisation (NGO) Al Bawsala, auf Deutsch: Der Kompass, ihr Büro. Sie will sicherstellen, dass die tunesische Politik in die richtige Richtung steuert. Fünf junge Leute sitzen in der Altbauwohnung, außer Computern und Internet brauchen sie zum Arbeiten vor allem Energie und viel Geduld. Ihr Ziel: Die Politiker sollen nicht hinter verschlossenen Türen arbeiten, sondern den Tunesiern offenlegen, woran sie arbeiten.

Politik hinter verschlossenen Türen

Noch ist das nicht immer der Fall, wie das Beispiel der Verfassungsgebenden Versammlung zeigt. Die sitzt seit fast einem Jahr an der neuen Verfassung, doch die Arbeit kommt nur langsam voran. Und was genau im Parlament passiert, das dringt kaum nach außen. Denn Sitzungsprotokolle werden zum Beispiel nur selten und widerstrebend veröffentlicht. Auf ihrer Website Marsad.tn (auf Deutsch: Observatorium) veröffentlicht die NGO so viele Informationen über die Arbeit der Verfassungsgebenden Versammlung wie möglich. Doch das reicht ihnen noch nicht.

Die Verfassungsgebende Versammlung von Tunesien tagt (Foto: Hassene Dridi/AP/dapd)
Seit Ende November 2011 tagt die Verfassungsgebende Versammlung von TunesienBild: AP

Geschäftsführer Selim Kharrat führt den Mangel an Transparenzkultur bei den Politikern auf die mehr als 50 Jahre dauernde Diktatur in Tunesien zurück. Doch auch die, die nicht Teil des Systems waren und nach der Revolution im Januar 2011 an die Macht gekommen seien, machten es nicht besser, findet der 31-Jährige. "Kein einziges unserer aktuellen Regierungsmitglieder, die unter Ben Ali im Widerstand oder im Gefängnis waren, hat ein Verständnis von Verantwortung gegenüber dem Volk", kritisiert Kharrat. Dabei müssten die Politiker den Wählern eigentlich Rechenschaft ablegen. "Die denken, dass sie jetzt freie Fahrt haben, weil sie gewählt wurden", sagt der Aktivist. "Sie müssen ihre ganze Denkweise ändern, und das dauert."

Druck auf die Politiker ausüben

Al Bawsala startet darum die tunesische Variante von Abgeordnetenwatch - einer deutschen Website, in der die Bürger ihren Abgeordneten Fragen stellen können. Die Antworten werden für alle einsehbar online veröffentlicht. So können die Bürger zum Beispiel sehen, ob sich ihr Abgeordneter an seine Wahlversprechen hält - und Druck ausüben, wenn er es nicht tut.

Selim Kharrat, Geschäftsführer der NGO Al Bawsala, sitzt hinter einem Laptop (Foto: Sarah Mersch)
Selim Kharrat möchte mehr Informationen für die BürgerBild: Sarah Mersch

In Kooperation mit Abgeordnetenwatch und der Berliner Organisation MICT (Media in Cooperation and Transition) hat Al Bawsala die Website entwickelt und an die Bedingungen in Tunesien angepasst. Nur übers Internet zu arbeiten sei unmöglich, denn viele Abgeordnete hätten im Büro nicht einmal einen Internetanschluss, erklärt Kharrat. Deshalb stellt Al Bawsala einen Parlamentsjournalisten ein, "der mit den Fragen ins Parlament geht und dort die Abgeordneten direkt befragt und die Antworten als Video oder Audio ins Internet stellt." So stehen die Antworten allen Bürgern zur Verfügung, denn der größte Teil der Tunesier hat Zugang zu einem Computer und Internet.

Volksvertreter unter Beobachtung

Gregor Hackmack, einer der Mitgründer von Abgeordnetenwatch, berät die Tunesier. Die deutsche Variante des Portals ist seit 2004 online. Hackmack ist überzeugt, dass das Konzept auch in Tunesien funktionieren kann. "Es ist eben eine große Chance, jetzt, wo sich Institutionen bilden und sich gerade Prozesse einspielen müssen, diese in die richtigen Bahnen zu lenken. Ich denke, da kann Al Bawsala mit dem Projekt Marsad.tn einen großen Beitrag leisten", meint Hackmack Von kleineren Rückschlägen und den täglichen Auseinandersetzungen mit den Politikern sollte sich das junge tunesische Team nicht entmutigen lassen. "Das ist normal in einer Demokratie. Man muss immer wieder dafür kämpfen, dass sie sich etabliert."

Menschen schwenken tunesische Fahnen (Foto: dpa)
Der Jahrestag der Revolution wird in Tunesien gefeiertBild: picture-alliance/dpa

Kharrat hat in Frankreich studiert und gearbeitet. Für die Tätigkeit bei Al Bawsala ist er extra in sein Heimatland zurückgekehrt. Er ist optimistisch, dass Tunesien der Schritt zur Demokratie gelingen wird. "Wir werden es schaffen, aber nicht morgen. Das wird Jahre dauern", sagt Kharrat. Aber im Vergleich zu den anderen Ländern des sogenannten arabischen Frühlings stehe Tunesien nicht so schlecht da, denn immerhin versinke das Land nicht in Gewalt. Im Oktober 2011 wurden zum ersten Mal freie Wahlen abgehalten und Tunesien bewegt sich langsam in Richtung Demokratie. Einen ersten Erfolg hat auch Al Bawsala schon errungen: Die Mitglieder der NGO haben veröffentlicht, wie die einzelnen Abgeordneten über die Entlassung des Chefs der tunesischen Zentralbank abgestimmt haben. Seitdem wissen die Volksvertreter ganz genau, dass sie unter Beobachtung stehen.