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Achtung – fleischfressende Futons

Marcus Bösch17. September 2003

Tanzende Wohnzimmer und hüpfende Barhocker. Der englische Künstler Jim Whiting bastelt in Leipzig eine interaktive Phantasiewelt. Betreten auf eigene Gefahr.

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Gefährliche Sitzmöbel in Leipzig

Die schöne neue Welt beginnt hinter den toten Gleisen der alten Baumwollspinnerei in Leipzig. Schon von weitem kracht und zischt es auf dem maroden Fabrikgelände. Ein kleines handbemaltes Schild weist den Weg zur hintersten Backsteinhalle. "Für Körper und Sachbeschädigungen wird keine Haftung übernommen" warnt eine Papptafel. Dahinter verbirgt sich Jim Whitings "Bimbo Town" (Bimbo, engl. "Puppe" oder "einfältige Frau").

Postmoderne Geisterbahn

Tagsüber sieht es hier aus wie auf einem Schrottplatz, einem Theaterfundus oder der Heimstätte eines sammelwütigen Möbelrestaurators. Über und über türmen sich Elektroschrott, Sitzmöbel und krudeste Mechanik. Neben Wintermänteln lagern LKW-Reifen, Stahlseile und ein Haufen Badewannen. Ein dutzend munterer Gesellen im Blaumann bohrt, schraubt, sägt und hantiert mit Hammer und High-tech. Denn wirklich fertig ist die interaktive Ausstellung "Bimbo Town" eigentlich nie.

Roboter in Bimbo-Town
Wir sind die Roboter

Auf 2.500 Quadratmetern hat sich hier der englische Maschinenkünstler Jim Whiting ausgetobt. Entstanden ist eine postmoderne Geisterbahn – eine skurrile Phantasiewelt für Leute von heute und Schwestern von gestern. "Die heutigen Menschen wollen vieles auf einmal und alles durcheinander", sagt der studierte Elektroingenieur Whiting, der seit gut 25 Jahren professionell mit beweglichen Installationen arbeitet. An zwei Abenden im Monat lädt Whiting zur Entdeckungsreise in seine Wunderwelt.

Hüpfen, umarmen, verschwinden

Auf den ersten Blick sieht hier abends alles nach einem relativ relaxten Aufenthalt in rauhem Fabrikambiente aus. Der Putz blättert von den Wänden, zwei zurechtgezimmerte Bars bieten Drinks feil und ein Haufen Sofas, Sessel und Stühle stehen hier und da und dort. Aber spätestens beim Versuch auf einem der Barhocker Platz zu nehmen, ist es mit der Ruhe vorbei. Denn das Sitzmöbel beginnt beim Kontakt mit dem Allerwertesten – wie von Geisterhand betrieben – zu hüpfen.

Auch potentiellen Couch-Potatoes geht es schlecht. Denn die Sofas von Jim Whiting verfügen dank perfider Elektronik über ein Eigenleben. Wer Glück hat wird nur von einer Sessellehne umarmt, wer Pech hat verschwindet langsam aber sicher im Rachen eines fleichsfressenden Futon. Geübte "Bimbo Towner" schnappen sich gleich zu Beginn des Abends eines der klassischen Ehebetten. Und lassen sich Dank ausgetüftelter Drahtseilkonstruktion gemächlich durch das Tohwabohu ziehen.

Rock it mit Druckluft

Logo von Bimbo-Town
Bimbo Town

"Ich möchte die Leute erfreuen", erklärt Whiting. Und das gelingt ihm mit wildgewordenen Mänteln die den Besucher von hinten umarmen und stöhnenden, frei durch den Raum fahrenden Schränken ganz tadellos. Mit Liebe zum Detail bastelt Whiting tanzende Wohnzimmer und konstruiert eine Menschenwaschanlage plus Badewannenbrunnen. Das Geheimnis der meisten Konstrukte lagert derweil in ihrem Inneren. Ein von Whiting erfundener "Druckluftmuskel" bewegt die meisten Exponante. Und mit Druckluft hat Whiting Erfahrung.

1984 feierte er seinen internationalen Durchbruch mit drei hysterischen Druckluft-Hosen. Die warfen im Herbie Hancocks-Musikvideo "Rockit" – das vielen als eines der besten Musikvideos jemals gilt – einen wilden Reigen auf das Parkett. Knapp 20 Jahre später schüttelt Whiting statt Roboterbeinen das komplette Sinnesarsenal der Besucher durcheinander. Seine interaktiven Exponate appellieren an den kindlichen Abenteurgeist, der "vieles pur erleben kann, ohne dass ihm sein Intellekt einen Streich spielt." Ganz einfach Bimbo eben!