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Afghanistan am Abgrund?

8. Oktober 2012

Der Rot-Kreuz-Chef für Afghanistan zieht eine ernüchternde Bilanz. Zivilisten gerieten immer mehr zwischen die Fronten, es drohe eine humanitäre Katastrophe. Politikwissenschaftler befürchten Chaos nach dem NATO-Abzug.

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Kind in einem Flüchtlingslager bei Kabul (Foto: AP/dapd)
Bild: dapd

Reto Stocker verlässt Afghanistan nach sieben Jahren. Hoffnung darauf, dass sich die Lage der Zivilbevölkerung in dem Land am Hindukusch in absehbarer Zeit bessern wird, hat er kaum. Der von der NATO geführte Krieg gegen die radikal-islamischen Taliban und die ständigen Kämpfe regionaler bewaffneter Gruppen gegeneinander haben nach Einschätzung des scheidenden Leiters des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz -IKRK- die Lage der Bevölkerung immer weiter verschlechtert. "Ich verlasse dieses Land mit Sorge", sagte Stocker in Kabul. "Seit ich im Jahr 2005 hier ankam, haben sich die lokalen bewaffneten Milizen stark vermehrt, Zivilisten sind nicht zur zwischen einer, sondern mehreren Frontlinien gefangen und es wird immer schwieriger für die normalen Menschen in Afghanistan, medizinische Versorgung zu bekommen." Lokale Stammeskonflikte leisteten einem Wiedererstarken der Taliban Vorschub.

Die Bevölkerung leide aber zunehmend nicht nur unter den bewaffneten Konflikten, sondern auch unter der schlechten wirtschaftlichen Lage. Die Bilanz der vergangenen sieben Jahre falle aus seiner Sicht negativ aus: "Die Hoffnung für die Zukunft hat sich ständig verringert", sagte der Mediziner Stocker.

Das Internationale Rote Kreuz arbeitet seit 1979 in Afghanistan. Es betreibt dort seinen größten Einsatz mit 1.800 Mitarbeitern, 15 Büros und einem Budget von rund 73,5 Millionen Euro für das laufende Jahr. Der neue IKRK-Landeschef, Gherardo Pontrandolfi, hat sein Amt in diesem Monat aufgenommen.

Politikforscher befürchten Chaos

Eine Sicherheitsanalyse, die von den Politikforschern der International Crisis Group herausgegeben wurde, prognostiziert der zunehmend unpopulären Regierung von Präsident Hamid Karsai den Kollaps nach dem Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan. Das Land sei weit davon entfernt, die Sicherheitsverantwortung übernehmen zu können, hieß es in dem in Brüssel veröffentlichten Bericht. Armee und Polizei des Landes seien "überfordert und unvorbereitet auf den Übergang".

Hinzu komme, dass Staats- und Regierungschef Karsai mehr damit beschäftigt sei, seine Machtbasis zu festigen als sich um die langfristige Stabilisierung des Landes zu kümmern. Karsai, der bereits seine zweite Amtszeit absolviert, darf bei der 2014 anstehenden Präsidentenwahl nicht wieder antreten. Dennoch wird spekuliert, dass er einen ihm genehmen Kandidaten ins Rennen schicken könnte, um aus dem Hintergrund weiter Einfluss zu nehmen. Es bestehe die Gefahr, dass Karsai den Ausnahmezustand erkläre - was zu einem Bürgerkrieg führen könne, warnte Crisis.

Die Glaubwürdigkeit der Regierung sei durch die "chaotischen und von Betrug überschatteten" Parlaments- und Präsidentenwahlen 2009 und 2010 schwer beschädigt worden, analysiert die Gruppe unabhängiger Experten. Die Crisis Group forderte Karsai auf, endlich einen Wahltermin zu benennen.

Die vorhergehenden Wahlen hatten einen komplizierten juristischen Streit über die Entscheidungsgewalt der Justiz über die zuständige Wahlkommission nach sich gezogen. Millionen Stimmen hatten wegen Fälschungen und Manipulationen neu ausgezählt werden müssen. Karsai hatte vage angedeutet, die Wahl auf 2013 vorzuziehen.

qu/sti (rtre, dpa, afp, epd)