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Kinderhilfe Afghanistan

Andrea Grunau25. Dezember 2008

Wenn Reinhard Erös nach Afghanistan reist, hat er die Taschen voller Geld: Spenden für die Kinderhilfe Afghanistan. Damit baut er im Osten Afghanistans Schulen. Wichtigste Regel: nicht als Ausländer auffallen.

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Reinhard Erös mit Schülern in Jalalabad (Bild: Erös / Kinderhilfe Afghanistan)
Reinhard Erös mit 'seinen' Schülern in JalalabadBild: Erös / Kinderhilfe

"Verpiss dich, Du dreckiger afghanisch-muslimischer Scheißkerl", als ein US-amerikanischer Soldat Reinhard Erös im umkämpften Osten Afghanistans so beschimpfte, war er mit einem alten Pick-up unterwegs. Auf der Ladefläche des Wagens: zwei verletzte afghanische Frauen in Burkas, die dringend ins Krankenhaus mussten. Eine hatte beim US-Bombenangriff auf ihr Dorf in der Nacht davor eine Hand verloren und starke Verbrennungen erlitten. Die zweite Frau hatte während des Bombardement eine Fehlgeburt. Die Blutung ließ sich nicht stoppen. Erös, früher Bundeswehr-Oberstarzt, schwieg vor dem nervösen US-Soldaten, der ihm ein Gewehr vor die Brust hielt. Er wollte die Frauen schnell aus der Gefahrenzone bringen.

Einen Deutschen hätte man nicht so beleidigt

Erös (stehend) mitten in der Versammlung der Dorfältesten in Eslamabad in der Provinz Laghman (Foto: Erös/Kinderhilfe Afghanistan)
Erös mitten in der Versammlung der Dorfältesten in Eslamabad in der Provinz LaghmanBild: ERÖS

Dass Erös in der konfliktreichen Region nicht als Ausländer erkennbar ist, ist ihm wichtig: Er spricht Paschtu, trägt einen Vollbart, weite Pluderhosen unter einem knielangen Hemd, dazu einen Turban oder eine andere afghanische Kopfbedeckung. Der Vorgesetzte des US-Soldaten entschuldigt sich später bei Erös: Man versichert ihm, einen Deutschen hätte man selbstverständlich niemals so beleidigt. Ungeheuerlich findet das Erös. Der fehlende Respekt im Umgang mit den Afghanen ist etwas, was der bayerische Christ nur schwer ertragen kann. Die Wiedergutmachungsspende des US-Offiziers in Höhe von 10.000 US-Dollar lehnte er mit höflichen Worten ab.

Höhlenarzt in der Zeit der sowjetischen Besatzung

Der deutsche Helfer Reinhard Erös setzt auf Distanz zu ausländischen Soldaten. Nahe sein will er den Afghanen. Schon Mitte der 1980er Jahre, während der sowjetischen Besatzungszeit, arbeitete der damalige Oberfeldarzt in seinem Urlaub in den Bergen von Tora Bora. Im eisigen Winter legte er in den Höhlenlazaretten mit klammen Fingern Infusionen in die winzigen Ärmchen unterernährter Säuglinge, amputierte unter flackernden Öllampen von Minen zerfetzte Unterschenkel. Im glühend heißen Sommer versorgte er Malariakranke, immer wieder auf der Flucht vor den sowjetischen Militärs. Das Land Afghanistan und seine Menschen ergriffen den deutschen Arzt - er nennt es Liebe.

Teetrinken mit den Taliban

Mädchenschule in Zawa, Provinz Nangahar (Bild: Erös / Kinderhilfe Afghanistan)
Mädchenschule in Zawa, Provinz NangaharBild: ERÖS

Von 1986 bis 1990 ließ Erös sich von der Bundeswehr beurlauben und zog mit seiner Frau Annette und vier kleinen Söhnen ins afghanisch-pakistanische Grenzgebiet. Dort arbeitete er als Arzt. Jahre später rang Erös in langwierigen Gesprächen sogar den bildungs- und frauenfeindlichen Taliban die Erlaubnis für die Gründung einer Mädchenschule ab. Stundenlang saß er mit den radikal-islamischen Extremisten zusammen. Erös sagt dazu: "Wer in der Vorhölle arbeitet, der muss mit dem Teufel ab und zu eine Tasse Tee trinken". Sein Einsatz verschafft ihm bis heute großen Respekt im Land. Nach dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 riefen Afghanen ihn und seine Frau zurück ins Land, um beim Wiederaufbau zu helfen. Der Bundeswehroberst, Jahrgang 1948, ließ sich im Jahr darauf vorzeitig aus dem Militärdienst entlassen.

Schülerinnen auf dem Pausenhof einer Mädchenschule in Khugiani in der Provinz Nangahar, die von der 'Kinderhilfe Afghanistan' gegründet wurde (Foto: Erös/Kinderhilfe Afghanistan)
Auf dem Pausenhof einer Mädchenschule in Khugiani in der Provinz Nangahar, die von der 'Kinderhilfe Afghanistan' gegründet wurdeBild: ERÖS

Erziehung zum Frieden

Etwa 50.000 Kinder im Osten Afghanistans besuchen heute die 24 Schulen der Organisation "Kinderhilfe Afghanistan", die Erös zusammen mit seiner Frau Annette gegründet hat, unter ihnen sehr viele Mädchen. Die Schulen mit ihrer Erziehung zum Frieden sind eine wichtige Alternative zu den Koranschulen, aus denen Extremisten häufig ihren Nachwuchs rekrutieren. Erös hat sich bewußt gegen die Arbeit in der Hauptstadt Kundus entschieden. Seine Begründung: Dort gibt es extrem viele Hilfsorganisationen, die Korruption blüht und aus der Hauptstadt heraus sind die Menschen in Not nicht zu erreichen. Die Ostprovinzen Afghanistans sind eine Region, in der es brennt, sagt Reinhard Erös. In einem Vorort von Jalalabad hat die Kinderhilfe ein Lehmhaus mit vier Räumen gemietet, in dem die einheimischen Mitarbeiter arbeiten. Im Inneren wenige Möbel und einfache dunkelrote Teppiche, nur auf dem Dach moderne Technik: Eine Photovoltaik-Anlage versorgt Lampen, Ventilator, Weltempfänger und einen alten Schwarz-Weiß-Fernseher mit Strom.

So genannte Kollateralschäden: Vier tote Schülerinnen

Hier im Osten, nahe der Grenze zu Pakistan, kämpfen US-geführte Truppen gegen Aufständische. Immer wieder sterben unbeteiligte Dorfbewohner. Diese so genannten Kollateralschäden haben für Reinhard Erös Gesichter: die von vier Schülerinnen. Im Sommer 2008 starben vier Mädchen, die Schulen der Kinderhilfe Afghanistan besucht hatten. Sie starben bei einem Hochzeitsfest, als amerikanische Flugzeuge, so formuliert es Erös, "mal wieder ihr Ziel verfehlten".

Ausländische Soldaten ziehen Geschosse an

"Geht den ausländischen Soldaten aus dem Weg", auch das lernen die Kinder an den Schulen der "Kinderhilfe". Grund sind nicht die Soldaten selbst, sagt Erös. "Ausländische Soldaten in Afghanistan ziehen Gewehrkugeln, Geschosse und Selbstmordattentate an. 60 bis 70 Prozent der Kinder, die in den vergangenen Jahren zu Tode kamen, starben in unmittelbarer Anwesenheit westlicher Soldaten." Die Schulen und anderen Einrichtungen der "Kinderhilfe" dagegen sind bisher noch nicht angegriffen worden. Grund: Jedes einzelne Projekt wird zusammen mit der afghanischen Bevölkerung entwickelt.

Die Afghanen bestimmen, was die Afghanen brauchen

Reinhard und Annette Erös (;itte hinten) beim Festakt einer Schule in Paghman in der Provinz Kapisa (Foto: Erös/Kinderhilfe Afghanistan)
Reinhard und Annette Erös (Mitte hinten) beim Festakt einer Schule in Paghman in der Provinz KapisaBild: ERÖS

Wenn Erös fünf- bis sechs Mal im Jahr mit Spendengeldern aus Deutschland nach Afghanistan kommt, dann setzt er sich erst einmal mit Maliks und Mullahs, mit Bürgermeistern, Geistlichen, Dorfältesten und Bauern zusammen. Sie beraten tagelang, was die Menschen wirklich brauchen, wo eine Schule fehlt oder eine Gesundheitsstation: Oder welche Alternative man den Bauern zum Anbau von Schlafmohn bieten kann. Die Kinderhilfe hat die Pflanzung von 25.000 Obstbäumen finanziert. Sie baute ein Waisenhaus, eine Mutter-Kind-Klinik, eine Lehrlingswerkstatt für Solartechnologie und zehn Computer-Ausbildungszentren.

Unter dem Schutz der Dorfgemeinschaft

Ganz auf einheimische Helfer setzt die Kinderhilfe auch bei Planung und Bau der Schulen. Fast 2000 Menschen stehen auf der Lohnliste der Kinderhilfe und es sind nur Afghanen. "Unsere Schulen", sagt Erös, "haben die Väter und Onkel der Schülerinnen und Schüler mit aufgebaut". Solche Gebäude werden nicht angegriffen, sie stehen unter dem Schutz der ganzen Gemeinschaft. Das ist auch der Grund, warum Erös keine staatlichen Gelder beantragt. Er will keinen bürokratischen Aufwand und vor allem will er "keine Anweisungen von einem Beamten aus Berlin dazu, was die Menschen in Afghanistan wirklich brauchen".

In Deutschland für Afghanistan werben

Erös erzählt vor Schülern in in Füssen von seiner Arbeit in Afghanistan (Foto: Erös/Kinderhilfe Afghanistan)
Erös erzählt vor Schülern in in Füssen von seiner Arbeit in AfghanistanBild: ERÖS

Wenn Erös über Afghanistan spricht, dann ist er nicht zu bremsen. Er schwärmt von der wunderschönen Landschaft, den schneebedeckten Bergen, den köstlichen Früchten und vor allem von der überwältigenden Gastfreundschaft der Afghanen. Seine Frau und er haben schon etwa 2000 Vorträge gehalten, die meisten in Deutschland, am liebsten in Schulen und Universitäten. Erös verkauft dabei die beiden Bücher, die er über seine Arbeit in Afghanistan geschrieben hat. Das Geld landet nach seinen Angaben komplett in Afghanistan. Das Ehepaar Erös und seine inzwischen fünf Kinder arbeiten in jeder freien Minute ohne Gehalt und Spesen für die Kinderhilfe.

Nicht nur auf Politiker setzen

Ein Netzwerk von rund 100 Ehrenamtlichen unterstützt die Familie Erös. Für ihre Arbeit erhielten Reinhard und Annette Erös das Bundesverdienstkreuz und den Europäischen Sozialpreis. Bei den Vorträgen in deutschen Schulen will Erös die deutschen Schüler auch politisch aufrütteln: "Es reicht nicht, nur auf das zu setzen, was die Politiker tun. Wir sind alle gefordert."