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Afghanistans Weg zum Paria-Staat

Analyse von Peter Philipp11. November 2001

Wo steht das Land, das Osama Bin Laden Asyl gewährt?

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Für Moskau ging am 15. Februar 1989 ein Alptraum zu Ende: an diesem Tag verließ der letzte Sowjetsoldat Afghanistan. Bis zu 115.000 von ihnen waren dort stationiert. Die Anzahl der sowjetischen Toten wird auf 15.000 beziffert. Aber niemand weiß das so genau. Wie auch niemand so genau weiß, wie viele Afghanen in den Jahren der sowjetischen Besatzung umgekommen sind. Man schätzt 350.000 Tote. Afghanistan war zum Vietnam der Sowjetunion geworden.

Afghanistan-Trauma der Sowjets

Die Sowjets waren in das mittelasiatische Land Ende Dezember 1979 einmarschiert, nachdem sich Babrak Karmal durch einen Umsturz innerhalb der herrschenden kommunistischen Regierung an die Macht geputscht hatte. Moskau behauptete, Karmal habe um Hilfe gebeten. Der vergebliche Krieg der Sowjets in Afghanistan ist heute ebenso unvergessen wie die Niederlage der Amerikaner in Vietnam. In diesen Tagen wird über einen möglichen Angriff der USA gegen Afghanistan spekuliert, nachdem Amerika den dort lebenden saudischen Millionär Osama Bin Laden zum wichtigsten Hintermann der verheerenden Terroranschläge in New York und Washington erklärt hatte.

Was von Moskau vor nahezu 22 Jahren zunächst als zeitlich begrenzter Einsatz bezeichnet wurde, geriet schnell zu einer dauerhaften Institution. Und die Sowjets wurden die wahren Herrscher in Kabul, wo sie 1986 zuließen oder gar betrieben, dass ihr in Ungnade gefallener Schützling Karmal vom früheren Geheimdienstchef Najibullah abgesetzt und abgelöst wurde.

Auflehnung gegen das kommunistische Regime

Von Kabul aus beherrschte das kommunistische Regime die größeren Städte, nie aber das ganze Land. In der bergigen Provinz herrschten weiter die Tradition und das Stammesdenken. Die Reform-Versuche der Regierung stießen nicht nur auf Misstrauen sondern entschiedene Ablehnung: Was da aus Kabul als neuer Lebensstil gepredigt wurde, galt in den Augen der überwiegend traditionalistisch-religiösen Landbevölkerung als unislamisch und unafghanisch. Und man begann, sich dagegen aufzulehnen.

Rasch bildeten sich Widerstandsgruppen, die im Namen des Islam gegen die Gottlosen aus der Sowjetunion und ihre Marionetten in Kabul zu kämpfen begannen. Die "Mujahedin" ("Gotteskämpfer") formierten sich in allen Teilen des Landes und sie wurden immer erfolgreicher. Sie überfielen sowjetische Militärkonvois, verwickelten die Besatzer in Kämpfe, die diese schon wegen ihrer Unkenntnis des Terrains nicht gewinnen konnten. Und wenn die sowjetischen Kampfhubschrauber kamen, dann waren die Mujahedin meist längst verschwunden.

Entscheidende Vorteile der Mujahedin

Die bessere Kenntnis der afghanischen Bergwelt und unbeugsamer Widerstandswille waren zwei wichtige Vorteile der Mujahedin. Ein dritter aber war die massive Unterstützung, die sie aus dem Westen erhielten. Allen voran die USA pumpten Waffen und Munition in schier unbegrenztem Umfang über Pakistan nach Afghanistan, um die Mujahedin in ihrem Kampf zu unterstützen.

Von besonderer Bedeutung waren dabei die "Stinger"-Raketen, mit denen die Mujahedin sowjetische Kampfflugzeuge und -Hubschrauber abschießen und die Einsatzmöglichkeiten der sowjetischen Luftwaffe erheblich reduzieren konnten.

Begehrliche Augen

Der Kampf wurde international ergänzt durch ein immer strikteres Embargo der Regierung in Kabul und durch Sanktionen gegen die Sowjetunion. Wie zum Beispiel ein Handelsboykott durch die USA und durch den Boykott der Olympischen Spiele in Moskau 1980.

Aber nicht nur der Westen unterstütze die Mujahedin: Muslimische Staaten wie Saudi-Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate, vor allem aber Nachbar Pakistan, das immer schon ein begehrliches Auge auf Afghanistan geworfen hatte, taten alles, um den Widerstand ihrer Glaubensbrüder zu unterstützen. Und: Wie einst im Spanischen Bürgerkrieg Kommunisten aus aller Welt als Freiwillige antraten, so strömten nun muslimische Freiwillige aus vielen Ländern der Arabischen und Islamischen Welt nach Afghanistan. Um zu helfen, aber auch um Erfahrung zu sammeln, die sie später daheim gegen die eigenen Regime einzusetzen gedachten - Regime, die allesamt nicht ihrem Ideal eines muslimischen Systems entsprachen.

Diese "Afghanen", wie man sie nannte, sollten später zum Rückgrat bewaffneter Untergrundbewegungen in Algerien, Ägypten, Saudi-Arabien und anderswo in der Arabischen Welt werden.

Nationaler Dialog und Aussöhnung

Mit dem Abzug der Roten Armee gibt Moskau sich versöhnlich: Jetzt sei die Zeit gekommen zu einem nationalen Dialog und einer Aussöhnung der verfeindeten Parteien. In Washington und Islamabad will man nichts davon hören, insbesondere nichts vom sowjetischen Appell, die Waffenlieferungen nach Afghanistan zu reduzieren. Noch ein Jahr zuvor hatte man die Sowjets aufgefordert, ihre Waffenarsenale im Land zu reduzieren, statt dessen rüstete Moskau die Armee Najibullahs auf. Moskau ahnte wohl was kommen würde.

In Moskau ist inzwischen Michail Gorbatschow an der Macht. 1988 bietet er zusammen mit Najibullah einen Rückzug an. Seine Bedingung: Die USA sollen ihre Waffenlieferungen an die Mujahedin einstellen. In Washington denkt man nicht daran. Man weiß längst, dass die Sowjets sich unter dem wachsenden Druck zu Hause zurückziehen werden und dass sie keine Bedingungen mehr diktieren können. Und so kommt es auch: Nach Vermittlung durch die Vereinten Nationen verspricht Moskau in Genf den bedingungslosen Rückzug. Die Waffenlieferungen der Amerikaner aber werden fortgesetzt: In den Jahren von 1980 bis 1992 investiert Washington drei Milliarden Dollar in den Kampf gegen die kommunistische Regierung in Kabul.

Von Frieden keine Spur

Der Abzug der Sowjets bringt Afghanistan aber nicht die erwartete Ruhe oder gar Frieden: Jetzt herrscht Bürgerkrieg im Land. Alle Parteien sind bis auf die Zähne bewaffnet und der Kampf wird erbittert geführt. Nach der Vertreibung der Russen geht es nun darum, auch ihre Statthalter aus dem Land zu vertreiben. Die Regierungstruppen laufen langsam über zu den Mujahedin, die im pakistanischen Peschawar eine Gegenregierung gebildet haben und immer mehr auf Kabul vorstoßen. 1992 wird Najibullah gestürzt und die Mujahedin übernehmen die Macht.

Die Koalition der verschiedenen Widerstandsgruppen führt ein islamisches Regime ein, das sich teilweise am Nachbarland Iran orientiert, wo bereits 1979 durch die Islamischre Revolution strikte religiös begründete Gesetze den Alltag reglementieren.

Die Koalition hält aber nicht lange. Ethnische Unterschiede - Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat - und konkurrierende Machtgier führen sehr rasch dazu, dass die Verbündeten von einst beginnen, einander zu bekämpfen. Was in den Jahren der sowjetischen Besatzung nicht geschehen ist, passiert jetzt: Große Teiler Kabuls werden in Schutt und Asche gelegt und wer kann, versucht zu fliehen.

Flüchtlingsproblem

Aufs Land oder ins Ausland - wo viele sich bereits in Sicherheit gebracht haben: Mindestens eine Millionen im Iran und ebenso viele in Pakistan. Wer irgend kann, versucht, nach Europa oder in die USA zu gelangen. Das afghanische Flüchtlingsproblem bekommt Dimensionen, die mit kaum einem anderen zu vergleichen sind.

Nach dem Sturz Najibullahs geht die Macht an den Führer der "Nationalen Befreiungsfront", Mujaddidi, über. Ein Jahr später muß er Burhan ul Din Rabani weichen, einem Tajiken, dessen Bewegung "Afghanische Islam-Gesellschaft" zu einer der wichtigeren Mujahedin-Gruppen gehört. Während Kabul umkämpft ist, etabliert sich nördlich der Ausläufer des Hindukusch in der Stadt Mazar-e-Sharif General Dostum, der gut nachbarschaftliche Beziehungen zu Uzbekistan und Tajikistan unterhält und ein freieres Leben garantiert als die Mujahedin in Kabul verordnet haben.

In Kabul und anderen Teilen es Landes geht unterdes der Kampf der Mujahedin untereinander weiter. Abertausende - man spricht von 50.000 - kommen um. Es kommt zu Massakern wie dem an Tausenden von Angehörigen der Hazara und immer mehr Zivilisten werden Opfer des fortwährenden Krieges. Die gefeierten Befreier von der sowjetischen Besatzung werden im Ausland plötzlich geächtet.

Neue Bewegung: Taliban

Während die Kämpfe um Kabul noch andauern, bildet sich mit Hilfe Pakistans, der USA, Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate im Süden und Südosten des Landes eine neue Bewegung von der man bisher noch nie gehört hat. Angebliche Koran-Schüler ("Talibban") beginnen sich 1994 zu organisieren und starten ein Jahr später ihren Siegeszug durch Afghanistan: Sie versprechen ein Ende der Kämpfe, die Entmachtung der korrupten Regierung und eine nationale Aussöhnung.

1996 erobern die Taliban Kabul. Rabani und Ahmed Schah Massus, ihre Gegenspieler, fliehen in den Norden, wo sie die "Nordallianz" bilden, deren Einfluss-Bereich immer weiter zusammenschmilzt: Jeden Sommer treiben die Taliban ihre Gegner weiter in die Enge, bis sie heute gerade noch eben 5 Prozent des Landes kontrollieren. Ein Teil ihrer Führer ist vertrieben oder getötet worden und auch hier ist es zu Massakern gekommen. Ohne Hilfe aus dem Iran und aus Tajikistan könnte die Nordallianz sich schon lange nicht mehr halten.

Bei der Eroberung Mazar-e-Sharifs durch die Taliban werden auch iranische Diplomaten umgebracht und es kommt beinahe zum Krieg zwischen beiden Ländern. Die USA haben sich längst von den Taliban abgewandt, nachdem sie festgestellt haben, um welche radikale Islamisten es sich bei den vermeintlichen Islamschülern handelt.

Andere westliche Staaten haben aus denselben Gründen jeden offiziellen Kontakt zu den Taliban unterlassen. Die Botschaften dieser Länder sind bestenfalls gelegentlich von niedrigeren Diplomaten besetzt, offiziell wird das Regime der Taliban nicht anerkannt und auch in den Vereinten Nationen ist grundsätzlich noch die Regierung Rabani akkreditiert.

Osama Bin Laden

Auch Saudi-Arabien hat mit den Taliban gebrochen, weil diese seit Jahren einem Mann Unterschlupf gewähren, der offen zum Umsturz in seiner alten Heimat aufruft: Der ehemals saudische Multimillionär Osama Bin Laden.

Von den Saudis längst ausgebürgert und von Washington als Staatsfeind Nummer eins betrachtet, betreibt der hagere Fanatiker und ehemalige Kämpfer gegen die sowjetische Besatzung in Afghanistan Ausbildungslager internationaler Terroristen, die dann im Ausland als sogenannte "Schläfer" stationiert werden - als Teil eines Netzwerk des Terrors und um zu gegebener Zeit aktiviert zu werden.

Mehr als alles andere hat die Anwesenheit Osama Bin Ladens in Afghanistan dieses Land zu einem Paria-Staat gemacht. Und es zeigt sich dabei immer wieder, wie problematisch es sich auswirkt, dass man kaum Beziehungen zu den Taliban unterhält. Noch nicht einmal auf der Arbeitsebene. Sonst hätte man es diesen vielleicht schon längst schmackhaft machen können, sich von einem Mann wie Bin Laden zu distanzieren.

Unberechenbar

Vielleicht: Denn die Taliban sind derart unberechenbar, dass sie vielleicht auch durch massive Wirtschafts- und - vor allem - dringende humanitäre Hilfe nicht von ihrem Kurs abzubringen sein könnten.

Hilfe hat Afghanistan bitter nötig: Gebeutelt durch jahrzehntelangen Krieg, durch Krankheiten, die Folgen von Minenverletzungen, durch Dürre und Hungersnot, leiden die Afghanen wie kein anderes Volk in der Region. Hilfe aber kommt nur spärlich - über humanitäre Organisationen, deren Arbeit aber auch immer wieder behindert wird: Durch Restriktionen und Schikanen der Taliban oder in der Folge der internationalen Beziehungen.

Reichtümer und Bodenschätze hat das Land nicht. Die einzige wirkliche Einnahmequelle sind Drogen. Und auch da hätte man international ein Instrument gehabt, sich mit den Taliban in Benehmen zu setzen: Europa und die Vereinigten Staaten, aber auch der benachbarte Iran und die zentralasiatischen Republiken haben alle ein Interesse, dass Afghanistan aufhört, Hauptproduzent von Drogen zu sein.

Es wurden auch Programme aufgelegt zur Umstellung der auf Mohnanbau ausgelegten Landwirtschaft auf andere - gesündere - Zweige. Aber ohne großen Erfolg. Denn wenn diese anderen Erzeugnisse nicht auf die Märkte gelangen oder dort natürlich nur viel weniger Geld bringen, dann ist die Rückkehr zum Mohnanbau zurückzukehren.

Geringe Hilfsbereitschaft

Das Ausland aber - besonders der Westen - ist nicht daran interessiert, die wahre Not des Landes zu beseitigen. Und der Vorwand dazu ist immer: Die Taliban vertreten ein Weltbild und eine Ideologie, die sich in keiner Weise mit dem aufgeklärter und freier Staaten verträgt. Wass ja auch stimmt, aber nur teilweise: So "verkauft sich" sehr leicht das Argument, Frauen müssten verschleiert sein, sie dürften nicht arbeiten und erhielten keine Schulbildung. Aber traditionell ist das in Afghanistan eigentlich immer so gewesen. Außer in der - relativ kurzen - Zeit der Kommunisten. Ein Gutteil der afghanischen Bevölkerung lehnte die Kommunisten ja auch deswegen ab, weil sie solche Traditionen nicht länger gelten lassen wollten.

Die Isolation des Taliban-Regimes durch die Außenwelt trägt aber mit dazu bei, dass dieses Afghanistan immer mehr zum rechtsfreien Raum und zum Tummelplatz übelster Terroristen vom Schlage Osama Bin Ladens geworden ist. Und eine Alternative ist nicht in Sicht.

Die "Nordallianz" unter Rabani reklamiert zwar für sich, die wahren Interessen der afghanischen Bevölkerung zu vertreten und sie bezeichnet die Taliban als verbrecherische Mafia. Aber als die Politiker der heutigen Nordallianz noch in Kabul das Sagen hatten, da kümmerten sie sich auch nicht um die Bevölkerung, sondern bekämpften einander ohne jede Rücksicht auf die Zivilbevölkerung.

Teehaus-Debattierklub

Die afghanische Opposition im Ausland wiederum ist degradiert zu einem Teehaus-Debattierklub und die Nachbarstaaten haben entweder keine Möglichkeiten oder kein Interesse dort einzugreifen. Pakistan hat die Entstehung der Taliban gefördert, es hat diese personell und materiell unterstützt, aber es hat entweder jede Einfluss- Möglichkeit verloren oder aber es will keinen Einfluss nehmen.

Solange Pakistan freilich auf der Seite der Vereinigten Staaten zu stehen vorgibt und nachdem es den USA jetzt auch seine - zumindest symbolische - Hilfe zugesagt hat, wird die Regierung in Islamabad sich wohl nicht so leicht aus der Verantwortung stehlen können.

Schließlich: Auch die Vereinigten Arabischen Emirate werden ihre bisherige Haltung gegenüber den Taliban wohl überdenken müssen: Es ist unvorstellbar, dass man in den Emiraten im Luxus lebt und der vermeintlich so dekadenten westlichen Lebensart frönt, gleichzeitig aber jene Kräfte unterstützt, die diese Lebensart und ihre auch positiven Gesellschaftsformen zum Todfeind erklärt haben.