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"Keine Luft zum Atmen"

Julia Hahn, Christian Roman9. Dezember 2015

Krieg ist Alltag für Februniye Akyol, die einzige christliche Bürgermeisterin der Türkei. Im DW-Interview berichtet sie, wie ihre Stadt Mardin unter den Kämpfen zwischen Armee und PKK und dem Syrien-Krieg leidet.

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PKK-Graffiti in Mardin
Bild: DW/C. Roman

Deutsche Welle: Im Konflikt zwischen der türkischen Armee und der verbotenen Kurdenorganisation PKK kommen fast täglich Menschen ums Leben. Gerade im Südosten, auch in Mardins Nachbarstädten, gab es zuletzt schwere Gefechte. Wie ist die Lage derzeit in Ihrer Stadt?

Februniye Akyol: Wir versuchen den Alltag so gut es geht zu bewältigen, aber das wird immer schwieriger - gerade weil hier in Mardin so viele verschiedene Volksgruppen leben: Kurden, Araber, Assyrer, Jesiden. Seit dem Scheitern des Friedensprozesses mit der PKK im vergangenen Juni gibt es in dieser Region immer wieder Auseinandersetzungen. In Nusaybin zum Beispiel musste die Bevölkerung fast zwei Wochen ohne Essen, Wasser und Strom auskommen. Die Regierung hatte wegen eines Anti-PKK-Einsatzes die gesamte Stadt abgeriegelt und eine Ausgangssperre verhängt. Unschuldige Zivilisten kamen ums Leben. Das ist absolut inakzeptabel.

Was muss denn passieren, um die Gewalt zu stoppen?

Diesen Konflikt kann niemand gewinnen - und das weiß jeder. Also müssen die Regierung und PKK-Chef Abdullah Öcalan zurück an den Verhandlungstisch. Der Staat erwartet, dass Öcalan seine Anhänger wieder einmal dazu aufruft, die Waffen niederzulegen. Aber das wird nicht geschehen, und das kurdische Volk akzeptiert solch eine Bedingung auch nicht. Die Lage ist extrem verfahren. Am Ende werden die Bürger die Verlierer sein - ganz egal, ob sie Kurden sind, Türken, Assyrer oder Araber.

Ein Portraitaufnahme von Februniye Akyol, Co-Bürgermeisterin von Mardin
Bürgermeisterin Februniye AkyolBild: DW/C. Roman

Und dann haben Sie ja auch noch den Bürgerkrieg in Syrien und die Terrormiliz "Islamischer Staat" quasi vor der Haustür. Haben Sie, haben die Menschen hier in Mardin Angst?

Wir sind es gewohnt mit der Gefahr zu leben. Der Konflikt in unserem eigenen Land kostet ja auch ständig Menschenleben. Da braucht es keinen IS, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Viele Menschen hier fühlen sich eher von der eigenen Polizei terrorisiert.

Ich nenne Ihnen mal ein Beispiel: In Silvan und Cizre haben Sicherheitskräfte Graffiti an die Wände gesprüht: "Ihr werdet die Macht der Türken zu spüren bekommen". Das ist für die Mehrheit der Kurden, die in diesen Städten leben, natürlich eine unglaubliche Provokation. Die Polizei sollte da sein, um uns zu beschützen, aber das tut sie nicht. Und was den IS angeht: Ich persönlich bin überzeugt, dass die Regierung die Islamisten unterstützt. In Kobane habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie leicht IS-Kämpfer über die Grenze von Syrien in die Türkei und zurück gelangen konnten.

Sie sind eine von nur noch rund 15.000 assyrischen Christen in der Türkei, einem mehrheitlich muslimischen Land. Wie geht es den Gemeinden hier?

Wir stehen permanent unter Druck. Uns fehlt die Luft zum Atmen, wir können unsere Religion nicht frei ausüben. Die Regierung duldet uns nur, solange wir ihr nützen. Hier in Mardin zum Beispiel gelten unsere Kirchen und Klöster als Touristenmagnete, wir kurbeln also die Wirtschaft an. Es kommt aber auch vor, dass Muslime nachts Steine an unsere Türen werfen, um uns zu provozieren. Viele Assyrer sind bereits ins Exil gegangen. Jetzt sind wir hier in der Region nur noch 3.000. Ich will, dass unsere Gemeinden wieder wachsen, denn wir sind ein Teil der Türkei.

Karte Türkei mit Stadt Mardin Deutsch
Die Stadt Mardin im Südosten der Türkei

Die türkische Politik wird nach wie vor von Männern dominiert. Was machen Sie für Erfahrungen als junge Frau in diesem System?

Ich kann mich eigentlich nicht beschweren. Die Partei, der ich nahe stehe - die HDP - macht sich schon lange für Gleichberechtigung stark. Vor den Wahlen haben sie gesagt: Wir wollen einen Vertreter der assyrischen Minderheit und wir wollen eine Frau an der Spitze und so wurde ich Co-Bürgermeisterin. Ich teile mir das Amt mit Ahmet Türk, er ist Kurde. Und jetzt versuche ich das Prinzip der Gleichberechtigung in möglichst allen Bereichen durchzusetzen. Wenn ich hier in der Stadtverwaltung 100 Stellen zu besetzen hätte, würde ich dafür sorgen, dass wir 50 Männer und 50 Frauen einstellen. Das Problem ist, dass es noch nicht genügend Frauen gibt, die für gewisse Jobs qualifiziert sind. Deshalb investieren wir gezielt in Ausbildung. Ich wünsche mir zum Beispiel mehr Busfahrerinnen und Polizistinnen in Mardin.

Februniye Akyol ist bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2014 für die pro-kurdische HDP angetreten und seitdem Co-Bürgermeisterin der Stadt Mardin im Südosten der Türkei. Die 27-Jährige ist assyrische Christin und hat Aramäisch studiert, die Sprache der assyrischen Minderheit in der Türkei. Ihr aramäischer Name ist Fabronia Benno, den darf sie allerdings nicht tragen, weil in der Türkei nach dem Gesetz jeder Einwohner einen türkischen Namen tragen muss.