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"Alle zwei Monate 45 000 Antragsteller"

5. Juni 2003

- Viele ukrainische Zwangsarbeiter warten immer noch auf Entschädigung

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Köln, 5.6.2003, DW-radio, von Katharina Heinrich

Die Bundesrepublik und die deutsche Wirtschaft haben die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" gegründet, aus deren Vermögen die ehemaligen Zwangsarbeiter aus dem Osten entschädigt werden sollen. Die Entschädigung beträgt ca. 2500 Euro - abhängig von einer Einstufung - und wird in zwei Raten ausgezahlt. Die erste Rate sollte bis Juni 2003 ausgezahlt werden, die letzte Rate bis Mitte 2005. Bisher hat die deutsche Bundesstiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" etwas mehr als zwei Milliarden Euro an die ehemaligen Zwangsarbeiter in 79 Ländern der Welt ausgezahlt. Fast vierhundertfünfzig Millionen Euro davon gingen an die ukrainischen Zwangsarbeiter. Da die Renten in der Ukraine zwischen 30 und 50 Euro liegen und die meisten Rentner unter dem Existenzminimum leben, sind sie auf die Wiedergutmachungszahlungen der Deutschen angewiesen. Katharina Heinrich berichtet.

Iwan Gudnitschenko ist zufrieden: sein Wunsch, noch einmal dorthin zu fahren, wo er seine Jugend verbracht hat, ist in Erfüllung gegangen. Nun, nach fast 60 Jahren betritt er zum zweiten Mal deutschen Boden. Beim ersten Mal war er 16 Jahre alt. Obwohl die drei Jahre als Zwangsarbeiter sehr hart waren, hat der junge Ukrainer nie seinen Lebensmut verloren und, wie er sagt, auch sehr viele gute Deutsche getroffen. Erst als 22jähriger kehrte er nach Hause zurück und heiratete dort seine Braut, die er im Hunsrück kennen gelernt hatte. Auch sie war eine Zwangsarbeiterin.

Vor zwei Jahren starb sie und nur wenige Monate später bekam Iwan einen Brief:

Iwan Gudnitschenko:

"Es kam ein Bescheid über die Entschädigung für meine Frau. (...). Damit fuhr ich zur Bank, aber als die dort erfahren haben, dass meine Frau tot ist, gaben sie mir nichts. Sie sagten mir, als ihr Erbe müsste ich die Ansprüche meiner Frau auf die Entschädigung erst auf mich übertragen lassen. Und dann, sagten sie, würden in erster Linie die noch lebenden Antragsteller berücksichtigt. Die Erben der Toten kämen als letzte dran. Sie haben mir nichts ausgezahlt."

Er selbst habe bereits 60 Prozent seiner eigenen Entschädigungssumme erhalten: 400 Euro für drei Jahre schwerer Arbeit in Deutschland. Aber ob er jemals das ganze Geld, also die Entschädigung für sich und seine Frau, bekommen werde, das wisse nur der liebe Gott, fügt der alte Mann hinzu.

Das liegt am komplizierten Prozedere der deutschen Stiftung, sagt Ihor Luschnikow, Leiter einer der ukrainischen Partnerorganisationen der deutschen Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft". Alle zwei Monate schicke seine Organisation Listen mit 45 000 geprüften Leistungsberechtigen nach Deutschland:

Ihor Luschnikow:

"Dort werden diese Listen von Vertretern der deutschen Stiftung innerhalb eines Monats auf die Berechtigung der Antragsteller hin kontrolliert. Gleichzeitig werden die Namenslisten, die von verschiedenen ukrainischen Partnerorganisationen eingereicht werden, miteinander verglichen. Damit wollen die Deutschen vermeiden, dass ein Antragsteller doppelt entschädigt wird. Erst dann überweisen sie die Entschädigungssummen auf das Konto des jeweiligen ukrainischen Partners und zwar namentlich für die in den Listen vermerkte Personen. (...) Danach schicken die Deutschen ihre Mitarbeiter zu uns, die nochmals alle Dokumente und Daten der ehemaligen Zwangsarbeiter überprüfen. Meistens werden so 10 Prozent der Antragsteller kontrolliert."

Die erste Rate der Entschädigungszahlung konnte noch nicht an alle Antragsteller ausgezahlt werden. Die zweite Rate bekommen die ehemaligen Zwangsarbeiter erst dann, wenn alle Antragsteller die erste Rate erhalten haben, also die Erben der Zwangsarbeiter und diejenigen, die gegen ihre Einstufung Widerspruch eingelegt haben.

Bei den Erben sind es die Forderungen der Deutschen nach einer bestimmten Erbfolge und Testamentsbestimmungen, die oftmals nicht der ukrainischen Wirklichkeit entsprechen, sagt Ljubow Sotschka, Mitarbeiterin einer ukrainischen Partnerorganisation.

Und bei dem Einspruch geht es um die Höhe der Entschädigung. Wer beispielsweise als Landarbeiter im Dritten Reich gearbeitet hat, kann mit einer Summe von bis zu 2500 Euro rechnen. Wer dagegen in einem Konzentrationslager einsaß, hat Anspruch auf 7500 Euro.

Weil viele Antragsteller nicht verstehen, warum die Auszahlung so schleppend voran geht, muss Ihor Luschnikow, Leiter einer der ukrainischen Partnerorganisationen, sich immer wieder rechtfertigen:

Ihor Luschnikow:

"Wenn man uns sagt, dass andere Partnerorganisationen der Deutschen schneller arbeiten, und wir nicht so gut arbeiten, dann muss man das objektiv sehen. Natürlich kann man uns mit der tschechischen Stiftung vergleichen, aber dort werden insgesamt nur 45 000 Antragsteller bearbeitet, während wir die Akten von 45 000 Antragstellern alle zwei Monate zur Überprüfung nach Berlin schicken."

Die deutschen Vertreter der evangelischen Kirche im Rheinland sind mit ihren ukrainischen Partnerorganisationen zufrieden. Denn mit ihrer Hilfe haben sie Zwangsarbeiter gefunden, die in kirchlichen Einrichtungen gearbeitet haben. Als Zeichen der Wiedergutmachung hat die Kirche ihre ehemaligen Zwangsarbeiter zu einem Gegenbesuch nach Deutschland eingeladen. Iwan Gudnitschenko ist einer von ihnen. (MO)