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Alles Lüge?

Christine Gruler9. September 2003

Haben die Lügen ein Domizil gefunden, in dem endlich dingfest wird, wo sich die Balken biegen? DW-WORLD kennt die Wahrheit.

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"Lügenmuseum" lautet ein Eintrag beim Deutschen MuseumsverbandBild: Kunstaffäre Lügenmuseum e.V.

"Im Hui sprang ich auf die Kugel, in der Absicht, mich in die Festung hineintragen zu lassen. Als ich aber halbwegs durch die Luft geritten war, stiegen mir allerlei nicht unerhebliche Bedenken in den Kopf. Hm, dachte ich, hinein kommst du nun wohl, allein, wie hernach heraus?" Mit der Geschichte des Kanonenritts kam der Freiherr von Münchhausen zweifelsohne als glanzvollster Lügner der Literaturgeschichte heraus.

Hans Albers als Münchhausen

Noch heute genießt der "Lügenbaron" großen Ruhm. Doch wer sich im nordbrandenburgischen Gantikow bei Kyritz an der Knatter auf den historischen Spuren berühmter Wahrheitsverdreher wähnt, der irrt. "Lügenmuseum" prangt in hölzernen Lettern auf einem Schuppen am Wegesrand. Ein Hinweisschild mit richtungsweisendem Pfeil nach links plus Fragezeichen versetzt den Besucher in Ratlosigkeit.

Die alte Frage der Philosophie

Wahrheit oder Lüge? Seit Platon beschäftigt diese Frage die Philosophie. Und längst ist klar, dass es sich um ein sinnloses Unterfangen handelt, aus dem Lügenmeer der alltäglichen Kommunikation die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden.

Lügenmuseum Außenansicht
Lügenmuseum, Museum, Kyritz, Gantikow, DeutschlandBild: Kunstaffäre Lügenmuseum e.V.

Das Schloss, in dem das Museum untergebracht ist, erweist sich als ein altes, mit Fresken bemaltes Gutshaus: Doch hinter seiner Eingangstür verbirgt sich Deutschlands wohl wunderlichstes Museumsunikat - so viel ist wahr.

Kaum ist die Schwelle übertreten, verlassen wir auch schon den Boden der Wahrheit. Unweit von den kosmischen Kuhfladen, die angeblich aus himmlischen Weiden niederregneten, ist da zum Beispiel das Ohr des Malers van Gogh zu sehen, das er sich 1888 abschnitt. Oder die bizarre "Psychedelika Maschinka", die es angeblich ermöglicht, Weltbewusstsein zu simulieren. Es blinkt, klappert und miaut auf 200 Quadratmetern. Von elektrischen Kleinmotoren angetrieben, rattern unzählige Gerätschaften vor sich hin.

Eine zeitgenössische Münchhausiade

Lügenmuseum Innenansicht
Lügenmuseum, Museum, Kyritz, Gantikow, DeutschlandBild: Kunstaffäre Lügenmuseum e.V.

"Durch das eindrucksvolle Bild des Lügners als Erzähler erfahren wir die Weltlichkeit der Welt," weiß Stefan Dietschs "Kleine Kulturgeschichte der Lügen" zu berichten. Ein älterer Herr im Lügenmuseum grübelt indes laut vor "Willy Brandts Geburtsstube": "Ist der nicht in Lübeck geboren?" Willkommen in der zeitgenössischen Münchhausiade.

Das Lügenmuseum ist ein begehbares Kunstwerk, ganz und gar gegenwärtig. Wer sich hier an der Nase herumführen lässt, stösst auf keine kuratorisch aufbereitete Schau zu Geschichte und Theorie der Lügen. Der volkstümliche Typus der als Form der Lügendichtung geltenden Münchhausiade hat dennoch als Vorbild gedient. Im hinter dem "Schloss" gelegenen Garten stoßen wir endlich zum Kern der Wahrheit vor.

"Jede Lüge ein Skandal"

Ein eiförmiger Grabstein mit der Inschrift "Jede Lüge ein Skandal" weist den Ort als Ruhestätte der Museumsdirektorin aus: Emma von Hohenbüssow verzeichnet der Museumsverband Brandenburg als erste Leiterin der 1997 eingetragenen Sammlung.

Lügenmuseum Grab
Lügenmuseum, Museum, Kyritz, Gantikow, DeutschlandBild: Kunstaffäre Lügenmuseum e.V.

Dass Emma ein Huhn war, drang erst später ans Licht der Wahrheit. Reinhard Zabka, DDR-Dissident und Künstler, versteckte sich einige Jahre hinter dem Federvieh. Als umtriebiger Systemkritiker mangelte es ihm nicht an erfundenen Geschichten. Und dass seine dadaistischen Schöpfungen auch im Kunstbetrieb des neuen Deutschland unkompatibel sind, stört jetzt nicht mehr: "Das Lügenmuseum bin ich. Was da zu sehen ist, das sind die Abfälle meiner Lebensform," sagt er selbstbewusst.

Wo Lügenmuseum drauf steht, sind also nicht nur Lügen drin. Wer hier lustwandelt, kommt den versteckten Wahrheiten auf die Spur. Das macht den besonderen Reiz des Hauses aus: Es ist ein Domizil für Lügen, deren Wahrheitsgehalt nicht unbedingt überprüft werden muss.

Wie sagte schon Oskar Wilde: "Wer so wenig Phantasie besitzt, eine Lüge erst noch beweisen zu müssen, der sollte lieber gleich die Wahrheit sagen." Wer's glaubt, der wird hier sicher selig.