1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Alltag im Beckenbauerland

Rainer Sollich / (kas)3. Oktober 2002

In Deutschland gibt es fast 10.000 chinesische Studenten. Mit welchen Vorstellungen kommen junge Chinesen nach Deutschland? Halten diese Vorstellungen dem Vergleich mit der Wirklichkeit stand?

https://p.dw.com/p/2iVX
Mittendrin oder außen vor?Bild: AP

Allein von 1997 bis 2000 stieg die Anzahl der chinesischen Studenten in Deutschland um 87 Prozent. Angelockt wurden sie von einem Studienstandort, der international als attraktiv gilt - und bei dem obendrein keine Studiengebühren anfallen.

Realitätscheck

Bevor sie nach Deutschland kamen, hatten Li Xiegong und ihre chinesischen Mitstudenten Liu Hao nur vage Vorstellungen von Land und Leuten. Deutschland ist von China aus weit weg, irgendwo in Europa eben. Aber viele Chinesen assoziieren mit Deutschland bekannte Namen: Siemens, Volkswagen, Karl Marx, Goethe, und vor allem Franz Beckenbauer. Und natürlich auch bestimmte Eigenschaften wie "ein ruhiges Land, und die Leute sind nett", "ehrlich" und "fleißig". Typisch seien auch die "vielen Vorschriften" und das ständige "Denken an die Arbeit".

Doch wie das so ist im Leben, sieht die Wirklichkeit vor Ort dann doch anders aus. Seit über einem Jahr ist die 21-jährige Li Xiegong in Deutschland. Sie studiert Betriebswirtschaftslehre an der Universität Bonn und sie ist positiv überrascht: nicht nur von der Qualität des Studiums, sondern auch von den Deutschen selbst. Während ihres Germanistik-Studiums in Peking hatte sie sich dieses Volk noch ganz anders vorgestellt, nämlich ernsthaft und wenig lachend: "Ich hatte ein bisschen Angst, bevor ich nach Deutschland kam und dachte, vielleicht werde ich mich verändern. Aber ich habe viele nette, lustige Leute getroffen." Und nicht nur das. Auch viele andere Dinge in Deutschland beeindrucken sie - etwa die Hilfsbereitschaft bei Unfällen im Straßenverkehr. In China würden die Leute oft nur neugierig glotzen, sagt Li Xiegong. In Deutschland gebe es sogar die Pflicht zu helfen. Gut findet sie auch den Ordnungssinn der Deutschen. Gewiss, sagt Li Xiegong, manchmal wirke das alles ein bisschen spießig. Etwa wenn man mit Behörden in Kontakt trete: die ganzen Formalien, Papiere und Stempel ...

Langfristig in Deutschland zu leben können sich viele Studenten nicht vorstellen. Denn mit den in Deutschland erworbenen akademischen Titeln versprechen sie sich im wirtschaftlich prosperierenden China viel bessere Berufschancen. Zudem haben viele chinesische Studenten überhaupt nicht das Gefühl, dass Deutschland ein großes Interesse daran hätte, qualifizierte ausländische Studenten im Land zu halten. Ausländer, sagen sie, würden hier nur für billige Jobs gebraucht.

Alltag in Deutschland

Viel moderner als in chinesischen Großstädten kann man in Deutschland nicht leben - eher im Gegenteil. So nehmen viele Chinesen erst einmal verwundert zur Kenntnis, dass in
Deutschland alle größeren Geschäfte ausgerechnet sonntags
geschlossen sind. Obwohl man doch gerade sonntags endlich einmal genug Zeit zum Einkaufen hätte. In China wäre das ein Unding.

Und dann das Essen! Vieles, was die Deutschen essen, schmeckt Chinesen nicht. Brötchen, Käse, Butter mache zu fett. Auch anderes ist für sie ungewöhnlich: Beim Friseur muss man vorher extra einen Termin vereinbaren, bevor man sich die Haare schneiden lassen kann. Gegenüber alten Menschen gebe es zu wenig Respekt. Und es gebe einige Deutsche, die zwar viel von Toleranz redeten, aber in Wirklichkeit eher auf Ausländer herabblickten.

Trotzdem leben die chinesischen Studenten gerne in Deutschland. Und neben der Sauberkeit in den Städten wird auch die Meinungsfreiheit als Pluspunkt aufgezählt. Aber dass die Deutschen besonders fleißig wären, davon ist Li Xiegong inzwischen nicht mehr überzeugt: "Die Deutschen haben so viel Freizeit! So viel Urlaub und Feiertage! Die arbeiten sehr, sehr wenig jedes Jahr."