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Als ich gegen Ronaldinho spielte

Gabriel Fortes (gh/stl) 13. Juni 2006

Die Brasilianer sind über ihre Nationalmannschaft komplett aus dem Häuschen. Es geht auch gar nicht anders. Gabriel Fortes schreibt, warum man als Brasilianer die Seleção unbedingt lieben muss.

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99 Prozent der Jugendlichen wollen Fußballstar werdenBild: picture-alliance / dpa/dpaweb

Im Brasilien der sozialen Unterschiede, des Hungers, der Korruption in der Politik und der Gewalt auf den Straßen hat Fußball eine wundersame Macht. Ein simpler Ball vermag es manchmal, dem Land den Status einer Supermacht zu verleihen. Seine Bewohner versetzt der Fußball in rauschartige Zustände. Aus diesem Fieber heraus werden immer wieder neue Talente geboren. Fußball-Legende Pelé hat "seinem" Volk die Erkenntnis gebracht, dass frühe Erfolge einen Mensch geradezu allmächtig machen können.

Fußball ist nicht nur der Traum für ein paar Jungs auf der Straße. Er ist der Traum einer ganzen Nation. Das Brasilien des Fußballs ist etwas absolut Positives, viele verbinden schöne Erinnerungen damit. Und deshalb lassen unzählige Brasilianer während der WM alles liegen und stehen und drücken der Seleção den Daumen, damit das Land an der Spitze bleibt.

Meine ersten Stollenschuhe

Der "König" ist Pelé. Er wurde mit 17 Weltmeister. Er führte das grün-gelbe Team zum dritten WM-Titel 1970 und wurde zum Mythos. Daheim und im Ausland. Fragt man Jugendliche nach ihren Wünschen, fällt die Antwort seit Jahrzehnten bei 99 Prozent gleich aus. Sie träumen davon, Spieler der Nationalelf zu werden.

So ging es auch mir - zumindest im Alter zwischen 8 und 15 Jahren. Ich fing in einer Hallenfußballschule an. Als ich meine ersten Stollenschuhe hatte, spielte ich bei einem kleinen Verein (Portuguesa Santista) und später beim FC Santos. FC Santos, das ist der Verein von Pelé, der Verein, in dem er die mythische Nummer 10 trug und mit zur Seleção brachte.

Auch ich durfte diese Nummer tragen – wenn auch im Trikot des Santista (die 10 von Santos wäre für mich wohl eine Nummer zu groß gewesen!). 1994 begegnete ich Ronaldinho Gaúcho, dem Superstar der WM heute. Schon damals war er etwas Besonderes. Er war der Star von Grêmio Porto Alegre, auf regionaler Ebene bekannt. Ich war zwölf, er 13.

Ronaldinho machte schon früh den Unterschied

Es war in Alegrete, im Hinterland des Bundesstaates Rio Grande do Sul, am unteren Zipfel Brasiliens, und zwar auf dem EFIPAN - Encontro de Futebol Infantil Panamericano, einem Treffen des Panamerikanischen Kinderfußballs. Es ist das weltweit größte Fußballtreffen dieser Art, an dem Vereine aus ganz Südamerika und einige aus Europa teilnehmen.

Meine Mannschaft spielte gut, verlor erst im Halbfinale mit 1:2 gegen Internacional (ebenfalls ein Club aus Porto Alegre) – ich schoss das Tor für mein Team. Auch Ronaldinhos Team verlor. Es unterlag im anderen Halbfinale den Argentinos Juniors. Internacional wurde Meister.

Im Spiel um den dritten Platz hatten wir die schlechteren Karten. Ronaldinho machte damals schon den Unterschied. Wir schossen kein Tor und sie gewannen mit 2:0 – daran kann ich mich noch gut erinnern.

Öffentliches Leben steht still

Diese Episode ist nur ein Beispiel für die Leidenschaft der brasilianischen Jungs für den Fußball. Da gibt es keine Grenzen, keine Barrieren. Viele hoffen darauf, den ganz großen Sprung zu schaffen. Meine größtes Hindernis war damals ein gebrochenes Knie. So oder so: irgendwann kommt die Entscheidung: Wird man ein erstklassiger Spieler, ein "Super-Held" mit hohem Einkommen und Glanz und Glamour oder wird man einfach Fan, einer der alles stehen und liegen lässt, sobald die Seleção zu spielen beginnt. Auch ich musste mich fragen: weitermachen mit dem Fußball oder mich auf das Studium konzentrieren? Ich wählte den zweiten Weg.

Brasilien liegt der WM buchstäblich zu Füßen. Der Gouverneur des Bundesstaates São Paulo hat angeordnet, dass alle öffentlichen Einrichtungen zwei Stunden vor Anpfiff der Spiele Brasiliens in der Vorrunde zu schließen haben. Die Zentralbank Banco Central do Brasil hat es den Banken des Landes genehmigt, zwei Stunden früher als gewohnt zu schließen – und diese Änderung muss mit einem Vorlauf von zwei Werktagen bekannt gemacht werden.

Und wer die brasilianische Justiz während der WM braucht, sollte sich auf etwas gefasst machen. Die Ämter in diesem Bereich sind an den Tagen, an denen die Seleção spielt, lediglich zwischen 9 Uhr und 14.30 Uhr für Rechtsanwälte und für die Bevölkerung geöffnet.

Wellington wollte ein Star werden

Fußball ist Leben für die jungen Brasilianer, vor allem für die aus bescheidenen Verhältnissen. Sie verzichten oft auf ihr Essen, um sich eine Fahrkarte zum Fußballtraining leisten zu können. Solche Geschichten sind alltäglich, auch die meines Freundes Wellington. Wir spielten in einer Mannschaft, als ich noch zwölf Jahre alt war. Wellington kommt aus einer einfachen Familie. Als ich mit dem Fußball aufhörte, schenkte ich ihm meine Stollenschuhe. Zwei Jahre später begegnete ich ihm auf der Straße in Santos, und er versuchte immer noch ein Fußballstar zu werden. Mit denselben Stollenschuhen.