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Am Scheideweg

4. März 2012

Der Wahlsieg Wladimir Putins war ausgemachte Sache. Doch Russland steht am Scheideweg. Die Wochen der Entscheidung haben nun erst begonnen, meint Ingo Mannteufel.

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Kommentar
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Seit den umstrittenen Parlamentswahlen im vergangenen Dezember erlebt Russland eine für lange Zeit unbekannte Proteststimmung und politische Mobilisierung. Doch der Wahlsonntag (04.03.2012) war nicht wirklich der Tag, der Russlands politische Zukunft entschieden hat. Denn dass Ministerpräsident Wladimir Putin nach den vorläufigen Angaben der Wahlkommission aus der Präsidentenwahl in der ersten Runde als Sieger hervorgeht, ist keine Überraschung. Auch der Vorwurf oppositioneller Gruppen, dass die Wahl nicht frei und fair verlaufen ist, sondern von Wahlfälschungen begleitet war, folgt dem erwarteten Szenario. Doch damit ist die spannende Zeit in Russland nicht vorbei. Jetzt beginnt sie sogar erst, denn wie wird die legal gewählte künftige Kreml-Führung um Wladimir Putin auf die angezweifelte Legitimität reagieren? Und wie werden sich dann ihrerseits die unzufriedenen Russen verhalten, die in den vergangenen Wochen so stark protestiert haben?

Szenarien der nächsten Wochen

In einem optimistischen Szenario könnte Putin in seinen ersten Handlungen und Personalentscheidungen nach der Wahl deutlich machen, dass er einigen Forderungen der systemkritischen Opposition nachgeben wird. Dies wäre ein Schritt von historischem Ausmaß und würde den Unzufriedenen in Russland wieder eine Perspektive geben. Doch dieses Szenario ist am wenigsten wahrscheinlich.

Ingo Mannteufel, Leiter der Russischen Redaktion (Foto: DW)
Ingo Mannteufel, Leiter der Russischen RedaktionBild: DW

Zu erwarten sind dagegen eher gezielte Repressionen gegen einzelne Vertreter der systemkritischen Opposition und / oder die Imitation von Reformen. Demnach würden oberflächliche Veränderungen des russischen Systems verkündet, aber große Probleme wie Korruption, demokratische und rechtsstaatliche Defizite würden unberührt bleiben. Der Status quo würde fortgesetzt, eine wirkliche Modernisierung des Landes bliebe aus.

Optionen der protestierenden Mittelschicht

Die Reaktionen der Anti-Putin-Bewegung dürften unter diesen Bedingungen recht unterschiedlich ausfallen und sich auf folgende Nenner bringen lassen: engagieren, radikalisieren, resignieren, arrangieren oder emigrieren.

1. Engagieren: Es ist zu hoffen, dass sich große Teile der Anti-Putin-Bewegung nicht vom Wahlausgang entmutigen lassen, sondern sich künftig in der russischen Politik engagieren werden – vor allem auf kommunaler Ebene in neuen Parteien oder in neuen zivilgesellschaftlichen Organisationen.

2. Radikalisieren: Zu befürchten ist aber auch, dass sich einige Vertreter der Anti-Putin-Bewegung radikalisieren und sich schlimmstenfalls sogar terroristische Gruppen bilden. Ansätze dazu sind auf der rechten und linken Seite der Protestbewegung durchaus vorhanden.

3. Resignieren: Nicht ganz unwahrscheinlich ist auch, dass sich so mancher Protestteilnehmer nach dem Wahlausgang enttäuscht vom politischen Engagement abwendet und resigniert.

4. Arrangieren: Und so mancher enttäuschte Russe wird sich notgedrungen mit den Gegebenheiten des russischen Alltags arrangieren und künftig mit Zynismus das öffentliche Leben in Russland betrachten.

5. Emigrieren: Vor allem die jungen, gut ausgebildeten Russen, die zahlreich unter den Demonstranten bei den großen Protestkundgebungen waren, werden aber ihr Schicksal außerhalb Russlands suchen. Dieser Brain Drain wird sich in doppelter Hinsicht negativ für Russland auswirken: Damit verliert das Land nicht nur genau die Kräfte, die es für eine liberale und demokratische Entwicklung benötigt. Vielmehr verspielt es die Menschen, die es für eine wirtschaftlich-technologische Modernisierung braucht, was die Kreml-Führung eigentlich am meisten fürchten müsste.

Die verschiedenen Szenarien und Handlungsmuster machen deutlich, dass Russland wieder einmal am Scheideweg seiner Entwicklung steht. Der Wahlsonntag war kein echter Tag der Entscheidung. Vielmehr werden erst die künftigen Tage und Wochen die Zukunft Russlands tiefgreifend prägen. In jedem Fall hat für Russland eine neue Zeit begonnen, selbst wenn der neue Präsident wieder Wladimir Putin heißt.

Autor: Ingo Mannteufel
Redaktion: Markian Ostaptschuk