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Amerikas neue Bürgerrechtsbewegung

Daniel Scheschkewitz, Washington DC5. Mai 2006

In den USA formiert sich eine neue Bürgerrechtsbewegung. Diesmal sind es die seit Jahren "illegal" im Lande lebenden Immigranten aus den Ländern Lateinamerikas.

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Fernschreiber Autorenfoto, Daniel Scheschkewitz

Über eine Millionen Menschen demonstrierten am Montag (1.5.2006) in verschiedenen Grosstädten der USA für die Bürgerrechte der Immigranten. Sie riefen Sprechchöre in Spanisch, trugen T-Shirts in den Farben Mexikos, El Salvadors oder Guatemalas und schwenkten die amerikanische Flagge. 600.000 waren es in Los Angeles, 400.000 in Chicago und weil die Kinder der in der Illegalität Lebenden vom Status ihrer Eltern genauso bedroht sind, fehlten in den Schulen von Los Angeles an diesem Tag ein Drittel aller Kinder. So stark ist inzwischen ihr Einfluss rein zahlenmäßig, vor allem an der Westküste und im Südwesten der Vereinigten Staaten.

Ablehnung in den Medien

Die US-Medien berichten seit geraumer Zeit über das Phänomen, das einige bereits mit der Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen Ende der 1960er Jahre vergleichen. Doch der Tenor der Berichterstattung ist häufig ablehnend und von der Befürchtung geprägt, die USA könnten ihren anglo-amerikanischen Charakter verlieren. Weil die Demonstranten zeitgleich zu einem Wirtschaftsboykott aufgerufen hatten und ihren Arbeitsplätzen ebenso fernblieben wie den großen Shopping-Malls warf der Sender Fox News etwa die Frage auf, ob es sich bei den Aktionen um freie Meinungsäußerung oder um "wirtschaftlichen Terrorismus" handele?

Begrenzte Auswirkungen des Boykotts

In der Tat mussten einige Firmen , wie der Hühnchengroßhandel "Perdue Farms", einen Großteil seiner Fleischfabriken schließen und auch der Lebensmittellieferant "Goya Foods", auf lateinamerikanische Produkte spezialisiert, stellte für einen Tag seine Lieferungen ein. Insgesamt blieben die Auswirkungen des Boykotts auf die US-Wirtschaft jedoch begrenzt.

Anders wäre es wohl, wenn die ohne Aufenthaltsgenehmigung in den USA arbeitenden "Latinos" - man schätzt ihre Zahl auf zwischen 12 und 20 Millionen - abgeschoben würden, so wie sich das einige rechtsgerichtete Politiker in der Hitze des beginnenden Kongresswahlkampfes wünschen. Dann kämen wohl nicht nur die Hühnerfarmen zum Erliegen, auch um die landwirtschaftliche Produktion in großen Teilen der USA, besonders dort wo Früchte und Gemüse noch von Hand geerntet werden müssen, sähe es schlecht aus. Latinos pflücken nicht nur für einen kargen Lohn Zitronen oder Orangen, sie putzen auch die Klos und schuften am Bau. Jobs, für die sich die anglo-amerikanische Mittelklasse in den USA seit langem zu schade ist.

Empörungsgebaren von Kommentatoren

Zahlreiche Studien belegen, dass die Arbeitskräfte aus den lateinamerikanischen Ländern auf dem Arbeitsmarkt nicht mit in den USA geborenen Arbeitnehmern konkurrieren. Aber was ist mit den kostenlosen Schulbesuchen, der gratis Schulspeisung und den anderen sozialen Dienstleistungen, die von den Immigranten in Anspruch genommen werden, ohne dass sie Steuern zahlen? Das Empörungsgebaren der Kommentatoren wie Lou Dobbs bei CNN oder Neil Cavuto bei Fox kennt keine Grenzen. Nüchterne Betrachter wie Harry Holzer, Wirtschaftsprofessor an der Georgetown University, kommen jedoch zu dem Ergebnis, "dass die Immigranten und ihre Kinder auf lange Sicht deutlich mehr zum Bruttoinlandsprodukt beisteuern als sie den Steuerzahler kosten".

Hymne bleibt Englisch

Was also gilt es zu tun? Die Frage wird in den USA so kontrovers diskutiert wie das Land politisch seit geraumer Zeit gespalten ist. Die einen fordern die schrittweise Legalisierung der "Illegalen" und ihre bürgerrechtliche Gleichstellung, zumindest aber ein Gastarbeiter-Beschäftigungsprogramm. Die Hardliner auf der Rechten fordern dagegen ihre Abschiebung, die Bestrafung ihrer Arbeitgeber und die Errichtung eines Grenzzaunes an der mexikanisch-amerikanischen Grenze. Dazwischen laviert Präsident Bush. Zum einen fordert er die Gesetzgeber auf, das Problem politisch zu lösen und einen Kompromiss zu finden, andererseits vermeidet er es tunlichst sich hinter einen der konkurrierenden Gesetzesvorschläge zu stellen.

Republikanische Partei im Dilemma

Stattdessen belässt er es bei populistischen Allgemeinplätzen wie der Forderung, dass die US-Hymne weiterhin auf Englisch zu singen sei. Das hat seinen Grund. Tatsächlich befindet sich nämlich vor allem die Republikanische Partei in der Einwanderungsfrage in einem Dilemma. Auf der einen Seite kann sie den permanenten Rechtsbruch, den die illegale Einwanderung darstellt auf Dauer nicht tolerieren, auf der anderen Seite weiß man natürlich , dass die Preise für Dienstleistungen und Lebensmittel im Lande explodieren würde, wenn die Arbeitskraft der illegalen Immigranten vom Markt genommen würde. Außerdem hat sich das Lager der "Latinos" in den letzten Jahren zu einem Reservoir zusätzlicher Wählerstimmen für Bush und die Republikaner entwickelt. Denn sind die zumeist gläubigen Katholiken erstmal legal im Lande tendieren sie aufgrund ihrer konservativen Wertorientierung eher zur Stimmabgabe für die Republikaner. So gesehen, dürfte der Streit um die Einwanderung noch eine ganze Weile anhalten.

Bis zu den Kongresswahlen im November gilt das Motto: Wer viel redet, muss nicht handeln. Derweil schuften die Immigranten weiter, denn wer in den USA am Rande des Existenzminimums lebt und darüber hinaus vielleicht noch Geld an die Verwandten in der Heimat schickt, kann sich wirtschaftliche Boykottmaßnahmen nur selten leisten.