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"Ukraine in NATO und EU"

Birgit Görtz28. März 2014

In seiner Heimat ist er der bekannteste Schriftsteller. Im DW-Interview schildert Juri Andruchowytsch, warum er das Gerede von der Kluft der Gesellschaft für übertrieben hält und für eine stärkere Westanbindung ist.

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Jurij Andruchowytsch auf der Buchmesse in Leipzig (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Deutsche Welle: Zweimal hat die Ukraine die Chance verpasst, eine demokratische, offene Zivilgesellschaft zu werden: Das gelang weder nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 noch nach der Orangenen Revolution 2004/2005. Meinen Sie, dass das Land nun seine dritte Chance nutzen wird?

Juri Andruchowytsch: Es ist in der Tat die dritte Chance. Wird das Land sie nutzen können? Uns bleibt nicht anderes übrig. Aber objektiv betrachtet ist die wirtschaftliche Situation um ein Hundertfaches schlechter als nach der Orangenen Revolution. Anfang 2005 war die Wirtschaft in einem Aufschwung. Damals war die Ausgangslage sehr günstig, jetzt ist sie nahezu katastrophal.

Ich verfolge die Nachrichten über den Auftritt von Premier Jazenjuk im ukrainischen Parlament. Die Lage, die er darstellt, ist desolat, insbesondere das Staatsdefizit. Ohne fremde Hilfe ist dieses Land bankrott. Jazenjuk hat am Donnerstag (27.03.2014) eine Reihe von unpopulären Maßnahmen angekündigt. Demnach wird der Preis für Erdgas ab dem 1. Mai um die Hälfte steigen. Das wird für die Bevölkerung sehr schmerzhaft. Doch nur so können wir auf die Hilfe internationaler Geldgeber rechnen.

Es stehen massenhafte Kürzungen in verschiedenen staatlichen Behörden, Stellenstreichungen in großem Umfang an. Die Privatisierung von Gebäuden und Immobilien in Staatsbesitz - Datschen, Paläste - das akzeptiert die Bevölkerung. Aber die steigenden Preise, die Inflation, die Abwertung unserer Währung Griwna gegenüber Dollar und Euro - das ist sehr hart für die Bevölkerung. Das stellt die Gesellschaft vor eine Zerreißprobe.

Wie die russische Aggression die Ukrainer zusammengeschweißt hat

Immer wieder ist die Rede von der Kluft in der ukrainischen Gesellschaft. Oft heißt es, der Graben verliefe zwischen dem ukrainischsprachigen Westen und dem russischsprachigen Süden und Osten. Dementsprechend seien die Menschen prorussisch oder prowestlich gestimmt. Verläuft nicht der Graben vielmehr zwischen denen, die für eine selbstbestimmte Zivilgesellschaft sind, und jenen, die noch der alten paternalistischen Sowjetmentalität anhängen?

Ich glaube, die Kluft wird übertrieben dargestellt. Meiner Ansicht nach sind vielleicht zehn Prozent der Menschen gegen einen unabhängigen ukrainischen Staat. Ich denke aber, es gibt viele Menschen, die desorientiert und gesellschaftlich passiv sind. Sie sehen nicht die Vielschichtigkeit der gegenwärtigen Lage des Landes, haben Probleme, die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Diese Menschen können leicht von aktiven Gegnern der ukrainischen Eigenstaatlichkeit instrumentalisiert werden. Das sehen wir in den östlichen Landesteilen, wo es Versuche gibt, die Lage zu destabilisieren. Am vergangenen Wochenende zum Beispiel. Doch es war nur eine Minderheit von 1000 Leuten, die auf die Straße gegangen waren. Von diesen kamen sehr viele als "Demonstrationstouristen" aus Russland.

Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass die ukrainische Gesellschaft homogen wäre. Aber die russische Aktion, die ständige Militärgefahr, ja man kann sagen, die Kriegsgefahr, schweißt die ukrainische Gesellschaft zusammen. Menschen in allen Teilen des Landes sehen die Notwendigkeit, ihr Land zu verteidigen. Angesichts 30.000 bis 50.000 russischen Soldaten an unserer Ostgrenze sind die Menschen in der Ukraine geeint, im Osten wie im Westen.

Die Rolle der Medien

Wäre die Regierung Jazenjuk nicht gut beraten, politische Kräfte aus der Ostukraine in die Tagspolitik einzubinden, darunter auch Vertreter der Partei der Regionen? Denn schließlich sind nicht alle Vertreter der einstigen Janukowitsch-Partei diskreditiert.

Ja, das wäre nötig. Man kann die Partei der Regionen nicht verbieten oder auflösen. In zwei Monaten stehen Präsidentschaftswahlen an. Ich denke, der Osten wird seine eigenen Kandidaten aufstellen. Auf jeden Fall müssen die östlichen Landesteile die Möglichkeit haben, Einfluss auf die Geschicke des Landes zu nehmen. Die Menschen müssen alle bürgerlichen Rechte ausüben können. Das muss eine Selbstverständlichkeit sein.

Welche Rolle spielen die Medien bei den Ereignissen in der Ukraine - sowohl die klassischen Medien als auch die sozialen Netzwerke und das Internet?

Das Internet hat eine immense Rolle gespielt. Damit meine ich nicht nur die sozialen Netzwerke wie Twitter oder Facebook. Im Internet entstand während des Maidan eine neue Fernsehkultur. Es gründeten sich unabhängige Internet-TV-Kanäle wie Hromadske-TV, das heißt "Öffentliches Fernsehen", oder espreso-tv und viele andere. Sie zeigten keine Werbung und finanzierten sich nur durch Spenden. Die Mitarbeiter erhielten kein Geld, arbeiteten ehrenamtlich. Das waren von der Zivilgesellschaft getragene Projekte, die sehr gelungen waren. Zudem gab und gibt es erfolgsreiche Internetzeitungen wie Ukrajnska Pravda.

Wie sehen Sie die Rolle der Intellektuellen und Schriftsteller, Brücken zwischen den Bevölkerungsteilen zu bauen?

Es ist klar, dass alle Teile der Gesellschaft ihren Beitrag leisten können und sollen. In der Regel wirkt der Einfluss der Intellektuellen nicht sofort. Aber es gibt viele Möglichkeiten, über die Kultur Einfluss zu nehmen. Das wird auch stets getan, und das ist auch nötig angesichts der Komplexität der Situation. Gefragt ist die bürgerliche Gesellschaft in ihrer ganzen Vielfalt. Wir brauchen gemeinsame gesellschaftliche Projekte, den Austausch zwischen den Regionen des Landes. Da sind nicht nur die Politiker gefragt.

Andruchowytschs größter Wunsch

Wie können die EU und Deutschland die Ukraine unterstützen?

In diesem Moment, wo wir über eine Kriegsgefahr sprechen, ist mein größter Wunsch, dass der Westen zwei Dinge möglich macht: die Beitritte der Ukraine in die NATO und in die EU. Das wäre ein Garant dafür, dass die Bedrohung von russischer Seite nicht Realität wird. Ich nehme zur Kenntnis, dass unsere Regierung einen Beitritt des Landes zur NATO nicht als Ziel formuliert. Möglicherweise tut sie das aus taktischen Gründen vor den Wahlen nicht. Doch ich denke, ein NATO-Beitritt sollte ganz offen thematisiert werden. Womöglich sind die Menschen in der Ostukraine noch nicht bereit, diese Realität anzuerkennen. Interessant wären aktuelle Umfragen zu dieser Frage. Mich freut sehr, dass der für die EU-Erweiterung zuständige Kommissar, Stefan Füle, klare Worte gefunden hat, dass nämlich die Ukraine EU-Mitglied werden soll.

Viele von Juri Andruchowytschs Werken sind auch ins Deutsche übersetzt. Er ist nicht nur eine der führenden intellektuellen Stimmen der Ukraine, sondern auch ein Kenner Deutschlands. Schon viele Male war er hierzulande zu Gast. Nun bereitet er sich wieder auf einen Aufenthalt vor: Anfang April tritt Andruchowytsch für ein halbes Jahr eine Gastprofessur an der Berliner Humboldt-Universität an. Angesichts der Ereignisse in seiner Heimat schaut er der Zeit fern seiner Heimat mit gemischten Gefühlen entgegen.