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Politik

Das neue Deutschland und seine Migranten

8. September 2017

Die Türkische Gemeinde in Deutschland präsentiert in einem Positionspapier Anregungen und Forderungen zur Gestaltung der immer vielfältigeren Gesellschaft in Deutschland. Das Papier greift viele umstrittene Themen auf.

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Muslime in Deutschland Schülern aller Konfessionen und Religionen
Bild: picture-alliance/dpa

Der Wahlkampf in Deutschland findet auf kleiner Flamme statt, und doch dürfte die Wahl Deutschland grundlegend verändern. Aller Voraussicht nach wird eine Partei, die AfD, in den Bundestag ziehen, die sich als betont einwanderungskritisch oder sogar -feindlich präsentiert. "Neue Deutsche?" heißt es auf einem Wahlplakat der Partei, die eine blonde, hellhäutige schwangere Frau zeigt - "Machen wir selber!" Umfragen zufolge können sich bis zu elf Prozent der Deutschen vorstellen, die AfD zu wählen.

Die Umfragen deuten an, welche Bedeutung für viele Deutsche die Flüchtlings- und Migrantenkrise hat. Die Wähler der AfD halten sich an einem Deutschland fest, das ethnisch homogener war, in dem noch nicht ein knappes Viertel der Bevölkerung einen Migrationshintergrund hatte. Es ist allerdings ein Deutschlandbild, das unwiederbringlich verloren ist. In Zukunft wird es darauf ankommen, die bunte Gesellschaft in Deutschland klug zu managen und Konflikten, die sich aus ihrer demographischen Zusammensetzung ergeben könnten, den Boden zu entziehen.

Chancen und Herausforderungen

In dieser Situation hat die Türkische Gemeinde in Deutschland jetzt ein "Positionspapier für eine moderne Einwanderungsgesellschaft" vorgestellt. Die gesellschaftliche Vielfalt, heißt es in der Einleitung, sei eine Ressource und ein Gewinn für Deutschland. "Klar ist auch", heißt es in dem Papier weiter, "dass die Einwanderungsgesellschaft uns alle immer wieder vor neue Herausforderungen stellt."

Gökay Sofuoğlu
Migrantenvertreter Sofuoğlu: "Eine Gesellschaft, in der wir alle leben wollen"Bild: picture-alliance/dpa/T. Rückeis

Um die Herausforderungen möglichst konstruktiv zu bewältigen, ist Kompetenz gefragt. Die sieht die Türkische Gemeinde vor allem in den Migranten selbst - und schlägt darum eine Quote für Migranten als Kandidaten der politischen Parteien vor. Der Vorschlag ist nicht unproblematisch: Der Wettbewerb unter den Kandidaten würde reglementiert, ein Teil der Bewerber könnte allein aufgrund seiner Abstammung auf einen Sitz in dem angestrebten Gremium hoffen. Ja, räumt Gökay Sofuoğlu, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde im Gespräch mit der DW ein: Das wäre so, ähnlich, wie es auch bei der Frauenquote der Fall ist.

Aber das sei sekundär. Der eigentliche Punkt sei ein anderer: "Wenn wir in Zukunft eine Gesellschaft gestalten wollen, in der wir ja alle leben und leben wollen, wäre es gut, wenn die Akteure, die diese Gesellschaft gestalten, auch in den Gremien zusammensitzen." Darum sei der Vorschlag einer Quote vor allem ein "Angebot". Denn Migranten brächten für die Gestaltung des Landes gewisse Ressourcen mit - "und die wollen sie auf vielen Ebenen für die Gestaltung des Landes einbringen". Außerdem, heißt es in dem Positionspapier, würde der Anblick weiterer Migranten in politischen Ämtern bei den Zugewanderten das Gefühl auslösen, in der Politik angemessen repräsentiert zu sein - ein Umstand, der ihre Bindung an Deutschland und damit auch ihre Loyalität steigern würde.

Bildung - eine soziale Kategorie 

Ein Land profitiert umso mehr von seinen Bürgern, auch den neuen Bürgern-, je besser diese ausgebildet sind. Doch bei der Bildung gebe es erhebliche Defizite, schreibt die Türkische Gemeinde. Sie macht dafür vor allem das deutsche Ausbildungssystem verantwortlich: "Auch nach mehr als 50 Jahren Einwanderungsgeschichte ist es dem deutschen Bildungssystem nicht gelungen, die Barrieren und Benachteiligungen der türkischstämmigen Schülerschaft zu beheben."

Die Frage wäre nur: Wie sieht die Türkische Gemeinde die Rolle der Familie? Fällt sie als Garant von Erziehung und Bildung aus, kann der Staat die entsprechenden Defizite bestenfalls mühsam ausgleichen. Dem stimmt Sofuoğlu  zu, setzt aber einen anderen Akzent. Das deutsche Bildungssystem sei sehr auf die Mittelschicht ausgelegt.

Wartende Flüchtlinge in Deutschland
Vielfalt und die Frage der Repräsentanz: Flüchtlinge in DeutschlandBild: picture-alliance/dpa/A. Weigel

"Migrantenkinder haben in der Schule nicht deshalb weniger Erfolge, weil sie Migrantenkinder sind, sondern weil sie oft einer gewissen Schicht entstammen. Vergleicht man die Bildungschancen der Migrantenkinder mit Kindern aus deutschen Arbeiterfamilien, sieht man gar keine Unterschiede. Das Gleiche gilt für Kinder von Akademikern." Darum brauche es Maßnahmen, die Kinder bildungsferner Haushalte generell besser unterstützten.

Die Mehrheit im Blick halten

Wie aber erreicht man die Familien? Ein solches Unterfangen, so kann man die Studie verstehen, setzt erhebliche Anstrengungen voraus. Denn: "Es gibt Diskriminierungsfälle, bei denen Schulen nicht in der Lage sind, die bestehenden Konflikte zu lösen, oder in denen eine schulinterne Lösung nicht sinnvoll ist. Dies kann zum Beispiel dann der Fall sein, wenn Schüler*innen oder Eltern kein Vertrauen in die schulischen Akteure haben".

Angesichts aufsehenerregender Fälle - die Eltern verbieten die Teilnahme am Schwimmunterricht oder am Klassenausflug - stellt sich die Frage, inwiefern das mangelnde Vertrauen der Eltern eine angemessene Richtschnur für staatliches Handeln sein kann. Gerade Eltern mit stark religiösem Weltbild stehen dem zeitgenössischen Bildungswesen nicht selten distanziert gegenüber.

Fraglich, wendet Sofuoğlu ein, sei allerdings eines: Wie repräsentativ sind solche Eltern? Wie groß ist die Gruppe, für die sie stehen? Man müsse die Proportionen wahren, erklärt er: "Wenn wir die ganze Migrantenthematik auf einzelne Menschen konzentrieren, die nicht zum Schwimmunterricht gehen, dann machen wir einen riesigen Fehler. Denn das sind wirklich Ausnahmefälle, über die man nicht eine gesamte Migrantengruppe definieren kann."

Reizthemen der Einwanderungsgesellschaft

Problematisch sei etwas anderes: "Wir wissen, dass bei Schulempfehlungen die Migrantenkinder öfter benachteiligt wurden. Denn auch wenn sie erfolgreich waren, wurden sie nicht unbedingt aufs Gymnasium geschickt."

Doppelte Staatsbürgerschaft, kommunales Wahlrecht, Diskriminierungsschutz, ein Anti-Rassismus-Beauftragter beim Bund: Das Papier enthält viele Themen, die in der öffentlichen Debatte derzeit für Erregung sorgen. Der Zugang der Türkischen Gemeinde auf diese Themen ist sachlich. Er greift Themen auf, die absehbar eine Antwort finden müssen. Denn die Einwanderungsgesellschaft Deutschland ist längst ein Fakt. Es kommt darauf an, sie klug zu gestalten.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika