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Angst auf den Straßen von Rio

Donna Bowater, Rio de Janeiro /ft2. Juli 2016

Rund einen Monat vor den Olympischen Spielen bekommt Rio de Janeiro sein Sicherheitsproblem nicht in den Griff. Wie auch? Die Stadtkasse ist leer, Besserung ist nicht in Sicht. Aus Rio de Janeiro berichtet Donna Bowater.

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Brasilien Protest von Polizisten in Rio de Janeiro gegen Arbeitsbedingungen
Bild: Getty Images/AFP/V. Almeida

Nicolas Labre Pereira, genannt "Fat Family", ist einer der wohl berüchtigtsten Verbrecher Rios. Am 19. Juni befreiten seine Komplizen den inhaftierten Bandenchef aus einem Krankenhaus in der brasilianischen Metropole, ein Patient wurde dabei ermordet. Dass die Polizei trotz der starken Bewachung gegen die rund 20 Angreifer machtlos war, zeigt zwei Dinge auf, die in Brasilien schief laufen: Die organisierte Kriminalität scheint übermächtig und die Sicherheitskräfte sind überfordert.

Allem voran fehlt es an Geld. Die finanzielle Lage des Bundesstaats Rio de Janeiro sei "katastrophal", attestierte der Gouverneur Francisco Dornelles nur wenige Tage vor der Befreiungsaktion. In dem Zusammenhang warnte er davor, dass wichtige Schlüsselfunktionen des öffentlichen Lebens zusammenbrechen könnten, wenn die Regierung nicht endlich im Stande sei, die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst zu bezahlen - Polizisten zum Beispiel.

Rio wartet sehnsüchtig auf eine Finanzspritze von Seiten des Bundes - rund 2,9 Milliarden Reals (circa 810 Millionen Euro) sind beantragt. Die Befreiung von "Fat Family" war dabei nicht nur ein Offenbarungseid der Sicherheitskräfte, sondern verstärkte zudem die Atmosphäre der Aggression und Angst auf den Straßen der Olympiastadt. Mindestens neun Menschen wurden innerhalb von neun Tagen ermordet, nachdem die Militärpolizei der Stadt mehrere Razzien in der Favela Mare durchgeführt hatte.

Brasilien: Soldaten in Rio de Janeiro, Foto: AFP
Soldaten bewachen eine FavelaBild: Getty Images/AFP/Evaristo Sa

Erst am Mittwoch (29. Juni) wurde dort nach einem Bandenboss gesucht. Augenzeugen berichteten, dass mindestens 80 Kinder, die gerade an Aktivitäten der Nichtregierungsorganisation Redes da Mare teilnahmen, durch die über der Siedlung kreisenden Hubschrauber und die gepanzerten Fahrzeuge während der Razzia traumatisiert wurden. "Es ist vollkommen unakzeptabel, dass wir im 21. Jahrhundert so etwas erleben müssen", sagt ein Sprecher der Organisation. "Viele Bewohner konnten an dem Tag nicht einmal in ihre Häuser zurückkehren." Die Favela Mare liegt an einer der Hauptstraßen Rios, die vom internationalen Flughafen in die Stadt führt. Die Polizei hat hier ihre Präsenz verstärkt, fast täglich kommt es zu Schießereien zwischen Polizei und Drogengangs.

Sicherheitsrisiko Olympia?

Am kommenden Dienstag (5. Juli) soll der olympische Sicherheitsplan in Rio in Kraft treten. 85.000 Polizisten und Militärs werden extra für die Spiele abgestellt. Andrei Rodrigues, außerordentlicher Sekretär für Sicherheitsfragen bei Großveranstaltungen, ist optimistisch. Noch in der letzten Woche ließ er die Presse wissen, dass das Sicherheitskonzept für Olympia genauso gut sei, wie das für die Fußball-WM 2014 und andere große Events in Brasilien. Zur angespannten Sicherheitslage in der Stadt sagt Rodrigues: "Rios Realität ist anders geworden. Ich weiß nicht, ob besser oder schlechter", so Rodrigues, "wir bereiten uns auf die Spiele vor".

Polizeigewerkschaften klagen, dass dies die schlimmste Situation sei, die sie seit Jahren zu meistern gehabt hätten. Rios Zivilpolizei und die Feuerwehr griffen zu einer drastischen Maßnahme, um ihren Unmut kundzutun: In der vergangenen Woche hissten sie ein Banner am internationalen Flughafen. Die Aufschrift: "Willkommen in der Hölle". Ihre Botschaft an die Ankommenden war klar: Sie sind nicht sicher in der Stadt, die ab dem 5. August Millionen Touristen, Sportler und Funktionäre empfangen will. Weitere Proteste wurden für die kommende Woche bereits angekündigt. Einen Streik während der Spiele schließen die Gewerkschaften nicht aus.

"Das schlimmste ist", klagt ein Sprecher der Zivilpolizei Rio (ColPol), "dass manche Polizisten sogar in der Belegschaft Geld sammeln müssen, um Untersuchungshäftlinge überhaupt mit Lebensmitteln versorgen zu können. Denn wenn sie dies nicht täten, würden sie die Rechte der Häftlinge verletzen".

Polizisten protestieren am 27. Juni in Rio gegen die Unterfinanzierung; Foto: Picture alliance
Polizisten protestieren am 27. Juni in Rio gegen die UnterfinanzierungBild: picture-alliance/NurPhoto/L. Souza

Die Zivilpolizei kann ihre Ausgaben nicht mehr decken. Gouverneur Dornelles gibt auch freimütig zu, dass das Benzingeld für Polizeiwagen nur noch bis Ende kommender Woche reiche. Gleichzeitig wächst die Gewalt gegenüber Beamten. Erst vor rund einer Woche wurde wieder ein 30-jähriger Polizist erschossen, das insgesamt 50. Opfer unter Polizisten allein im laufenden Jahr.

Schießereien an der Tagesordnung

Die Olympischen Spiele, da sind sich Beobachter einig, wird Rio nicht ohne Unterstützung vom Bund bewältigen können. Lloyd Belton ist Risiko-Analyst mit Schwerpunkt Lateinamerika beim britischen S-RM Risikomanagement. Er sagt, dass nicht nur Favelas der Schauplatz täglicher Waffengewalt seien. "Auch einige der olympischen Sportstätten waren schon betroffen", so Belton. "Die völlig unverfrorene Befreiungsaktion von 'Fat Family' hat uns nochmal die Macht der Gangs vor Augen geführt. Und die Hilflosigkeit der Behörden, sechs Wochen vor den Spielen".

Die schlechte Sicherheitslage hat sogar schon eine Olympiateilnehmerin zu spüren bekommen: Die australische Seglerin Liesl Tesch, die bei den Paralympics an den Start gehen will, wurde Anfang Juni im Stadtteil Flamengo mit vorgehaltener Waffe überfallen. Was die Spiele der Sportler mit Behinderung im September angeht, ist ohnehin noch unklar, ob ausreichend für Sicherheit gesorgt ist. "Die Behörden setzen klar auf Quantität statt Qualität", sagt Belton. "Für die Dauer der Spiele wird wahrscheinlich irgendwie für Sicherheit gesorgt sein. Aber über die Spiele hinaus ist völlig unklar, ob die Behörden die öffentliche Ruhe in der Stadt garantieren können." Denn: All die getroffenen Maßnahmen seien lediglich behelfsmäßig. Ein Konzept, wie man etwa in Zukunft Favelas besser schützt oder auch eine weitreichende Polizeireform seien bislang nicht in Sicht, so Belton.