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Angst vor dem Matsch

Stephan Hille7. Dezember 2004

In Moskau gibt es noch einen Winter wie aus dem Bilderbuch. Der kann sich durchaus romantisch gestalten, solange der Schnee noch leise rieselt. Steigt die Temperatur, ist das Märchen vorbei. Was bleibt, ist Matsch.

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Stephan Hille

In Russland, da ist - zumindest wintertechnisch - die Welt noch in Ordnung. Wo in Europa, von den Alpenregionen und dem Kahlen Asten im Sauerland einmal grob abgesehen, gibt es denn noch einen richtigen Winter mit Bergen von Schnee? Früher, als bekanntlich alles besser war, so schätzungsweise vor 20 Jahren, da kam es regelmäßig vor, dass die Schüler wegen plötzlichen Wintereinbruchs nicht in die Schule konnten, und eine "weiße" Weihnacht war so sicher wie das Amen in der Kirche.

Das war wohl einmal. Komisch, denn damals qualmten noch ordentlich die Industrieschlote und kein Mensch wusste, wo Kyoto liegt. Jetzt haben wir dieses Protokoll, aber richtiger Winter ist für die meisten Europäer wohl eher ein Ort, wo man in Urlaub hinfahren muss.

Schneeschaufler, Schneehaufen, Schneeschieber...

In Russland hingegen ist der Winter noch ein verlässlicher Gefährte und eine Jahreszeit, die ihre vier Monate, die ihr per Kalender zustehen, auch voll einfordert. Von Ende November bis Ende Februar sind Berge von Schnee, riesige Eiszapfen und Autos, die wegen der Kälte nicht anspringen, Alltag und Dauerzustand. Eine Armada von Schneeräumfahrzeugen rückt aus sobald der erste Schnee gefallen ist. Autos, die am Straßenrand geparkt wurden, verschwinden - wenn ihre Halter nicht aufpassen - relativ schnell in den Schneebergen, die von den Räumfahrzeugen an die Seite geschoben werden. Früh morgens sieht man dann, wie die Eigentümer mit Schaufeln und Schneeschiebern nach ihren Autos suchen.

Die städtischen professionellen Schneeschaufler sind tagaus, tagein damit beschäftigt, die Schneemassen zu bewältigen. Die reinste Sisyphusarbeit. Eine richtige Armee stellt sich dem weißen Niederschlag entgegen: Mit speziellen Baggern, die den Schnee auf Förderbänder schaufeln. Und mit Lastwagen, die unermüdlich die nasse Last aus dem Stadtzentrum abtransportieren und ihre Fracht in den Moskwa-Fluss rutschen lassen.

Stöckelschuhe als Eispickel

"Industrielle Alpinisten", so heißen die Männer die Straßenzug für Straßenzug durchkämmen, und auf die Dächer klettern, um Schnee- und Eisbrocken von den Dächern zu schieben und sich an Fassaden abseilen, um meterlange Eiszapfen von den Dachrinnen abschlagen, bevor diese die Fußgänger erschlagen. Bürgersteige werden in den Wintermonaten zur No-Go-Area, weil entweder Absperrgitter zum Schutz vor den Eiszapfen oder aber riesige Schneehaufen und Eisflächen den Weg versperren. Es ist eigentlich erstaunlich, dass sowohl Fußgänger als auch Autofahrer immer noch ihr Ziel erreichen - wenn auch mit erheblich mehr Zeitaufwand, weil sich überall alles noch mehr staut als es ohnehin schon der Fall ist.

Die Moskauer nehmen den Winter mit stoischer Gelassenheit und machen das Beste draus. Es ist zum Beispiel immer wieder beeindruckend, die vielen Frauen zu beobachten, die auch beim widrigsten Frost nicht auf ihre Stöckelschuhe verzichten, sondern die hohen, dünnen Absätze als eine Art Eispickel nutzen und dabei auch auf eisglatten Wegen eine gute und erstaunlich sichere Figur machen.

Wintermärchen ohne Happy-End

In den Moskauer Parks lassen sich die älteren Herren auch bei empfindlichen Minustemperaturen nicht von ihren Freiluft-Schachpartien abhalten, und an den Wochenenden steigt - so scheint es - ein ganzes Volk auf Schlittshuh und Langlaufski um.

Nur durch die häufigen Temperaturschwankungen wird aus dem Wintermärchen schnell der Winter-Horror: Wenn es plötzlich für kurze Zeit taut und sich Moskau in einzige schwarze dreckige Schneematsch-Zone verwandelt. Dann ist es vorbei mit der Winterromantik und man wünscht sich nichts sehnlicher, als dass der ganze Dreck in der Kanalisation verschwinden möge - doch das dauert noch…