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Ansteckende Eigeninitiative

1. Juni 2010

Berlin-Neukölln gilt als perspektivloser Stadtteil. Sogar die Lehrer der Rütli-Schule kapitulierten hier vor vier Jahren. Ein Jugendclub zeigt, was kreative Jugendarbeit bewirken kann.

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Der freie Träger Fusion e.V. bietet zahlreiche kulturelle Workshops für die Kinder in Berlin Neukölln an (Foto: Fusion e.V.).
Mit Kultur gegen ArmutBild: Fusion e.V.

Malak lässt sich Zeit. Wie in Zeitlupe schreibt sie in ihr Schulheft, ihre Lippen formen die Wörter nach. Ferhat schaut ihr dabei geduldig über die Schulter und liest ihr immer wieder die zu schreibenden Sätze vor. Der Wirtschaftsrechtsstudent ist Honorarkraft im Jugendclub "Manege" und betreut die Kinder jeden Nachmittag bei den Schularbeiten. Denn bevor sie sich hier austoben können, müssen sie ihre Hausaufgaben in einem ruhigen Raum im Obergeschoss erledigen. Malak, die täglich in den Jugendclub kommt, findet das ziemlich gut: "Ich lerne hier viel und außerdem mach ich dann auch die Hausaufgaben."

Der freie Träger Fusion e.V. bietet Hausaufgabenbetreuung an (Foto: Fusion e.V.).
Erst Pauken, dann TobenBild: Fusion e.V.

Im Erdgeschoss herrscht dafür ein reges Treiben. Kein aggressives Chaos, wie es diesem Viertel im Norden von Berlin-Neukölln oft zugeschrieben wird, sondern ein lebendiges, durchweg friedliches Kindertoben. Eine Mitarbeiterin zeigt einigen Mädchen mit Kopftuch, wie man ein Rad schlägt. In der Werkstatt arbeitet ein Junge an einem rot lackierten Holzherz, das er gerne seinem Vater schenken möchte.

Die schlimmste Form von Armut

Bis zu 40 Kinder kommen jeden Tag hierher, sagt Leiterin Martha Galvis de Janzer. Ist das Wetter gut, kann sich die Zahl auch schnell verdoppeln. Seit 20 Jahren ist die Kolumbianerin in Berlin. Sie kennt das Viertel und ihre Bewohner gut: "Die meisten Menschen hier leben von Transferleistungen, Armut gehört zu unserem Alltag", sagt sie. "Es ist jetzt nicht so, dass die Kinder unterernährt wären. Aber wir haben hier eine Armut, die sich zusammensetzt aus finanziellen Mitteln und Mangel an geistigen Entwicklungsmöglichkeiten."

Der freie Träger Fusion e.V. bietet zahlreiche kulturelle Workshops für die Kinder in Berlin Neukölln an (Foto: Fusion e.V.).
Kreatives FutterBild: Fusion e.V.

Für sie sei das die schlimmste Form von Armut. Deswegen habe sie sich entschlossen mit ihrem Verein "Fusion" und dem dazugehörigen Jugendclub "Manege" dagegen anzukämpfen. In ihrem Viertel sind 35 Prozent ohne Arbeit, mehr als 90 Prozent der Kinder stammen aus Familien mit Migrationshintergrund.

Auch die Oma von nebenan macht mit

Ihr Eifer ist ansteckend: Einige Nachbarn arbeiten ehrenamtlich mit. So zum Beispiel die Rentnerin Gita Spoo. Vier Mal die Woche kommt sie nachmittags in den Club und übt mit den Kindern lesen. Die setzen sich ganz freiwillig zu ihr auf die Couch, so wie Denis aus der zweiten Klasse. Auch er kommt täglich hierher: "Es macht mir Spaß und ich liebe es zu lesen."

Der freie Träger Fusion e.V. bietet zahlreiche kulturelle Workshops für die Kinder in Berlin Neukölln an (Foto: Fusion e.V.)
Theaterworkshop im Jugendclub "Manege"Bild: Fusion e.V.

Die 14-jährige Camle übt derweilen Klavier. Das junge Mädchen in Kopftuch und Turnschuhen bekommt hier einmal die Woche kostenlosen Unterricht von einem Klavierlehrer. Was sie später einmal werden will, weiß sie noch nicht. Nur so viel: "Ich gehe jetzt aufs Gymnasium und will Abitur machen."

Vor vier Jahren wäre das wahrscheinlich noch nicht gegangen. Damals kapitulierten die Lehrer der Rütli-Schule und schrieben in einem Brief, der öffentlich wurde, dass sie am "Ende ihrer Kräfte" seien. Die Schüler seien zu aggressiv, Lerninhalte überhaupt nicht mehr vermittelbar.

Seit dem Hilferuf der Neuköllner Lehrer hat sich in dem Kiez viel getan. Die Haupt- und Realschule wurden zusammengelegt und eine Abiturklasse eingeführt, auf die nun auch Camle hofft. Den Jugendclub "Manege" direkt neben der Rütli-Schule gibt es hingegen schon seit sieben Jahren. Seitdem ist es aufgrund der bunten Fassade und den zahlreichen Fantasie-Skulpturen aus Pappmasche schon viel fröhlicher im Kiez geworden. Unterstützt wird der Jugendclub mit rund 100.000 Euro an öffentlichen Geldern.

Große Ersatzfamilie

Jedes Jahr muss Galvis de Janzer um die Finanzen kämpfen, den Glauben an ihre Eigeninitiative verliert sie dabei nie: "Wir haben uns vorgenommen Kunstformen zu entwickeln, um die Kinder da abzuholen, wo sie sind. Und um deren Ressourcen, Fähigkeiten und intellektuelle Kapazität zu steigern."

Der freie Träger Fusion e.V. bietet zahlreiche kulturelle Workshops für die Kinder in Berlin Neukölln an (Foto: Fusion e.V.).
Selbstbemalte FassadeBild: Fusion e.V.

Dazu gehören Theater- und Comicworkshops, Musikunterricht sowie Ausflüge ins Berliner Umland. Das Konzept geht auch deswegen so gut auf, weil Martha Galvis de Janzer einen engen Kontakt mit den Eltern pflegt, sie mindestens einmal im Monat zum Gespräch einlädt und ihnen anbietet, Gemüse und Obst im Garten des Jugendclubs anzupflanzen.

Im Eingangsbereich des Jugendclubs sitzen alle Kinder rund um eine große Tafel. Malak ist aus der Hausaufgabenbetreuung runtergekommen, Denis und Gita haben ihre Lesestunde unterbrochen, Camle ihr Klavierspiel. Zwei Kinder haben heute Geburtstag, die Kinder und Betreuer stimmen ein "Happy Birthday" an. Im Jugendclub "Manege" ist es Ritual, die Geburtstage der Kinder gemeinsam zu feiern. Dazu gehören auch feierliche Glückwünsche der Kinder. Ein Junge meldet sich und steht auf: "Ich wünsche Dir, dass du weit in deinem Leben kommst. Und dass du die beste in deiner Klasse bist."

Autorin: Nadine Wojcik
Redaktion: Kay-Alexander Scholz