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"Antijeufs" – Die neuen Antisemiten?

Ali Akinci4. Mai 2002

In Frankreich leben sechs Millionen Muslime und 700.000 Juden: Die Krise im Nahen Osten trifft das Land darum wie kein anderes in Europa.

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Nach dem Brand der Synagoge in Marseille nimmt die Polizei die Ermittlungen aufBild: AP

Die Bilanz der letzten Wochen: Eine ausgebrannte Synagoge in Marseille, eine beschossene koschere Metzgerei in Toulouse, ein versuchter Brandanschlag auf eine Synagoge in Straßburg und eingeschlagene Fenster in einem jüdischen Gemeindezentrum in Nizza.

Schmierereien, Drohbriefe, tätliche Angriffe – das alles kannte man in der jüdischen Gemeinde Frankreichs schon vorher. Aber nun "hat das drastisch zugenommen – die Feindseligkeit, der Rassismus, die Angst", erklärt Maurice Obadia, Präsident der jüdischen Gemeinde von La Duchère. Zwei Fahrzeuge, beladen mit Molotow-Cocktails rammten vor drei Wochen den Eingang seiner Synagoge. Den Geruch von verschmortem Plastik habe er immer noch in der Nase. Trotzdem will Obadia noch nicht von "Vorläufern einer neuen Kristallnacht" sprechen.

"Antijeufs" – Die Halbstarken der Vororte

Türkische Immigranten in Deutschland, München
Harte FrontenBild: AP

Denn Obadia kennt die Täter: Sie bezeichnen sich selbst als "Antijeufs", also Antijuden. "Jeufs" ist das Schimpfwort arabischer Jugendliche für Juden. Meist stammen die "Halbstarken" aus sozialen Brennpunkten - heruntergekommenen Plattenbauten aus den 60ern. In diesen Ghettos bauten sich bei den Jugendlichen Aggressionen und Hass auf: Keine Arbeit, keine Zukunft, keine Anerkennung durch die französische Gesellschaft. Die arabischen Zeitungen und TV-Kanäle heizten die Stimmung mit ihrer "einseitigen Berichterstattung" über den Nahost-Konflikt zusätzlich auf, glaubt Obadia.

"Wir mögen sie nicht"

Die islamische Gemeinde Frankreichs indes versucht zu schlichten. Nicht alle Glaubensbrüder seien Fanatiker. Man dürfe Frankreichs arabischstämmige Bevölkerung nicht vorverurteilen und "über einen Kamm scheren". Schließlich sei man selber Opfer rassistischer Akte. Die Worte eines jungen Algeriers bringen die Spannungen zwischen Frankreichs Muslimen und Juden auf den Punkt: "Wir sind keine Antisemiten. Wir mögen sie nicht, aber das ist normal, wenn man bedenkt, was Israel den Palästinensern antut".

Um Erklärungen bemüht

Chirac im Wahlkampf
Chirac im WahlkampfBild: AP

Wie reagiert der Staat? Frankreichs Innenminister Daniel Vaillant bekräftigt, man tue alles zum Schutz jüdischer Mitbürger und Einrichtungen. Der Polizeipräfekt von Paris habe als Sondermaßnahme die Polizeipräsenz vor Synagogen und anderen jüdischen Gebäuden massiv verstärkt.

Auch im Elisee-Palast bemüht man sich um Solidaritätsbekundungen mit der jüdischen Bevölkerung: "Ich kann nicht zulassen, dass auf französische Staatsbürger, nur weil sie Juden sind, Gewalttaten verübt werden", sagte Premierminister Lionel Jospin Mitte April und empfing kurzerhand führende Vertreter des Islam in Frankreich. Ergebnis des Krisentreffens: Die Glaubensführer sollen zur Beruhigung der Lage in der Nation aufrufen.

Auch Staatsoberhaupt Jaques Chirac trat in Aktion: Er setzte eine Kippa auf und besuchte nach den Anschlägen eine Synagoge in Le Havre. "Frankreich ist kein antisemitisches Land", sagte er. Zugleich sprach er von seiner "sehr großen Sorge über die Spannungen, die hier und dort zunehmen". Die Gewaltakte nannte Chirac "unbeschreiblich" und "unerträglich".

Beobachtern in Frankreich ist aber klar: So lange kein Frieden im Nahen Osten herrscht, so lange wird der Graben zwischen Juden und Muslimen in Frankreich immer tiefer.