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"Antisemitischer Diskurs in Ungarn"

9. Juni 2004

- Eine beunruhigende Bestandsaufnahme

https://p.dw.com/p/5AN7

Budapest, 9.6.2004, PESTER LLOYD, deutsch

"Antisemitischer Diskurs in Ungarn" - Schon allein die Tatsache ist beunruhigend. Dass sich nämlich eine jüdische Organisation seit 2000 die Mühe macht bzw. machen muss, die nicht selten offenen Erscheinungen des Antisemitismus im Land zusammenzutragen und aufzuzeigen.

Die Bände darüber sind seitenfüllend. Der jüngste mit Informationen über die Jahre 2002/03 beginnt mit einer guten Nachricht: Die Zahl der offenen antisemitischen Akten und Erklärungen ist seit Frühjahr 2002, nachdem die rechtsradikale MIÉP, die seit 1998 mit zwölf Abgeordneten im Parlament vertreten war, die 5-Prozent-Hürde nicht mehr nehmen konnte, zurückgegangen. Erfreulich, auch wenn trotzdem viele Seiten Zeugnis von antisemitischen Erscheinungen in diesen Jahren geben.

Darunter die besonders hässlichen Behauptungen, die die Nobelpreisauszeichnung des Juden Imre Kertész in Frage stellten bzw. ihn diffamierten. Verschiedene rechtsradikale Publizisten behaupteten, dass der bis dahin kaum bekannte Kertész die Auszeichnung gar nicht verdiene, umso weniger, da die "echten" Größen der ungarischen Literatur bislang nie bedacht wurden. So wurde indirekt auch das Ungartum von Kertész in Frage gestellt. Höhepunkt war vermutlich die Äußerung des Dichters Kornél Döbrentei im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, der (nach Eigenangabe ohne je irgendetwas von Kertész gelesen zu haben) meinte, dass es schrecklich schmerzend sei, "wenn jemand einen der höchsten Preise durch das Suggerieren der kollektiven Schuld eines Volkes erhält..." Diese Behauptung führte dann zur Spaltung des Schriftstellerverbandes. Nachdem die Führung – der auch Döbrentei angehört – nicht bereit war, sich von ihm zu distanzieren und Verbandspräsident Márton Kalász keinen Grund zum Einschreiten sah, traten zahlreiche bekannte Autoren unter Protest vom Verband aus. (...)

Ebenso die Frage, ob und wie das Strafgesetz novelliert werden soll, um antisemitische Hetze und Aufwiegelung zur Gewalt entsprechend bestrafen zu können. Angesichts der häufigen klar antisemitischen Äußerungen in der breiten Öffentlichkeit entschloss sich die regierende Sozialistische Partei, das Strafgesetz entsprechend zu verschärfen. Auch ein Teil der Koalitionspartner der Liberalen sprach sich dagegen aus, ebenso die konservative Opposition. Das Verfassungsgericht befand dann, dass Rede- und Meinungsfreiheit Vorrang haben – und die Gesetzesänderung wurde verworfen.

Während die Frage dahingestellt bleibt, ob strengere Gesetze helfen könnten, hat der "antisemitische Diskurs" in Ungarn eigentlich nicht wirklich nachgelassen. Umso weniger, da hunderttausend ehemalige MIÉP-Wähler weiterhin da sind. Diese Partei gibt eine Wochenzeitung heraus, Magyar Fórum. In noch größerer Auflage erscheint das Wochenblatt Magyar Demokrata. Dieses unterstützt (mit Kritik von rechts) den Fidesz und erregte unlängst Aufmerksamkeit, als es die deutschen und ungarischen "Helden" von Budapest ehrte, die mit ihren Durchhalten im Jahr 1945 die Verantwortung an der Zerstörung der Hauptstadt tragen. Die Zeitung wurde von der Fidesz-Führung, die die MIÉP-Wähler integrieren möchte, ebenso empfohlen wie der Fidesz-Vorsitzende Viktor Orbán aus demselben Grund einem berüchtigten rechtspopulistischen Programm des staatlichen Rundfunks, Vasárnapi Újság, schon mehrmals ein Interview gewährte. (fp)