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Freiheit in Angst

9. August 2011

Der Irak-Krieg 2003 zählt zu den wichtigsten Folgen der Terroranschläge von 9/11. Ein Iraker erinnert sich, wie die anfängliche Euphorie über den Sturz Saddams schon bald dem Schrecken über Chaos und Gewalt wich.

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Porträt von Aqeel Ibrahim Lazim (Foto: DW)
Bild: DW

Die Nachricht von den Terroranschlägen des 11. September erreichte Aqeel Ibrahim Lazim mitten in den Hochzeitsvorbereitungen. Der frisch von der Uni kommende Zahnarzt aus Basra besprach mit seiner Verlobten die Details der Vermählungsfeier, als sein flüchtiger Blick die dramatischen Bilder registrierte, die in der Wohnzimmerecke über den Fernseher flimmerten: brennende Türme, sterbende Menschen - grausame und zugleich seltsam unwirklich erscheinende Szenen aus einem entfernten Land, das er selbst nie besucht hatte und das die offizielle irakische Propaganda stets als "feindliche Macht" darstellte. Erst allmählich verstand er: Das war keiner der brutalen Action-Thriller, die seit kurzem in Saddam Husseins kontrolliertem Staatsfernsehen gezeigt wurden. Das war Realität.

"Ich dachte, das ist die Apokalypse"

Lazim beim Betrachten der Bilder von 9/11 (Foto: DW)
"Ich dachte, das ist die Apokalypse"Bild: DW

"Ich kann nur schwer beschreiben, was ich in diesem Augenblick empfunden habe", sagt Lazim zehn Jahre später. "Es war eine Mischung aus Staunen, Mitleid und Schock. Ich dachte, das ist die Apokalypse, der völlige Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation."

Dass die Anschläge in Amerika nicht nur seine Hochzeit überschatten, sondern seinem Land einen weiteren Krieg und den Sturz des Diktators Saddam bringen würden, ahnte der heute 35-Jährige in diesem Augenblick noch nicht. Er fühlte Empörung, aber auch Verunsicherung. "Diese Anschläge galten Zivilisten. Und wenn man Mitleid hat, fragt man nicht, welcher Herkunft oder Nationalität die Opfer sind", erzählt der Iraker rückblickend. "Als Mensch war ich sehr traurig über diese Opfer. Aber irgendwie war es ein sehr ungewohntes Mitleidsgefühl, denn die Täter bekannten sich ja ausdrücklich dazu, Muslime zu sein."

Ob das Regime schon an diesem Abend ahnte, welche Folgen der Terror der Al Kaida für den Irak haben könnte? Lazim jedenfalls registrierte in der Nacht auf den 12. September eine große Nervosität auf Seiten der Machthaber. Überall in den Straßen seien plötzlich Sicherheitskräfte und bewaffnete Mitglieder der herrschenden Baath-Partei aufgetaucht, erinnert er sich. "Als ob der Irak selbst zur Zielscheibe solcher Anschläge werden könnte."

Lazim in seiner Praxis in Basra (Foto: DW)
Aqeel Ibrahim Lazim arbeitet heute als Zahnarzt in BasraBild: DW

Beim Junggesellenabschied und der anschließenden Hochzeit gab es kaum noch ein anderes Gesprächsthema. "Ich bekam mehr Nachrichtenmeldungen als Glückwünsche zu hören", erinnert sich Lazim, der heute als Dozent für Zahnmedizin an der Universität Basra arbeitet und zudem eine kleine Zahnarztpraxis unterhält. Das Regime organisierte damals bereits erste Kundgebungen zur Huldigung Saddam Husseins. Viele Bürger seien zur Teilnahme gezwungen worden, erinnert sich Lazim. Wie die meisten Schiiten stand er dem Regime des Sunniten Saddam Hussein schon damals sehr kritisch gegenüber.

Anzeichen eines nahenden Krieges

Schnell wurde immer deutlicher, dass infolge der 9/11-Anschläge auch im Irak ein neuer Krieg heraufzuziehen drohte. Saddam Hussein wurde von der US-Regierung beschuldigt, Massenvernichtungswaffen zu besitzen. Auch von direkten Verbindungen des Regimes zur Al Kaida war die Rede. Beides habe sich später als falsch erwiesen - aber für die Iraker seien es deutliche Anzeichen einer näherrückenden Konfrontation gewesen, erinnert sich Lazim. Unvergessen bleibt ihm eine bekannte Rede des damaligen US-Präsidenten: "Bush sagte allen Machthabern weltweit: Entweder seid ihr für uns oder gegen uns. Unser Regime betrachtete die USA jedoch als Erzfeind, weil sie die irakische Invasion in Kuwait mit Krieg beantwortet hatten."

Der neue Krieg begann eineinhalb Jahre später, am 19. März 2003. Lazim erinnert sich daran noch heute mit zwiespältigen Gefühlen: "Viele Iraker in meinem Umfeld haben die Invasion unseres Heimatlandes abgelehnt", so Lazim. "Zugleich hofften wir alle auf den Sturz Saddam Husseins." Der folgte bereits 22 Tage später und wurde von vielen Bürgern geradezu euphorisch gefeiert. "Endlich waren wir dieses Regime los", erinnert sich Lazim. "Allerdings war es ein trauriges Gefühl, Besatzungstruppen in unseren Städten zu sehen."

Irakische Soldaten in Basra (Foto: DW)
In Basra ist die Sicherheitslage nach wie vor problematischBild: DW

Der Sturz Saddam Husseins brachte Lazim und seinen Landsleuten nie gekannte Freiheiten: "Es war unglaublich: Plötzlich konnte man völlig frei seine Meinung äußern." Auch beruflich lief es für ihn gut. Eine eigene Zahnarztpraxis - daran wäre in der Zeit der Günstlingswirtschaft unter Saddam Hussein für ihn überhaupt nicht zu denken gewesen.

Ein Land versinkt im Chaos

Der Preis für die neu gewonnenen Freiheiten war jedoch hoch und er fiel blutig aus: Das Land versank über Jahre in Chaos, Gewalt und Terror. Sunniten und Schiiten massakrierten sich gegenseitig, niemand war mehr sicher vor Anschlägen und Entführungen. "Das war nicht die von uns erhoffte Form der Freiheit", sagt Lazim. "Das war eine Freiheit in völliger Gesetzlosigkeit." Zehntausende Iraker starben in dieser Zeit. Die Lage hat sich inzwischen zwar gebessert. Aber es gibt kaum eine irakische Familie, die keine Opfer zu beklagen hätte.

Lazim bringt seine Kinder Mohammed und Sarah in die Schule (Foto: DW)
Aus Angst vor Anschlägen bringt Lazim seine Kinder täglich in die SchuleBild: DW

Lazim selbst verlor in den Terrorjahren seinen Cousin Mohammed, der 2006 von Unbekannten entführt wurde. Im ganzen Land suchte die Familie damals nach ihm: in Krankenhäusern, auf Polizeiwachen, in Leichenschauhäusern. Sehr schlimme Momente seien dies gewesen, sagt Lazim rückblickend: "Diese Säle waren überfüllt mit Leichen. Ich stand schockiert davor und fragte mich: Weshalb wurden alle diese Menschen getötet?" Überall habe es nach Leichenfäulnis gestunken. "Die Behörden waren nicht mehr in der Lage, neue Kühlanlagen anzuschaffen." Sein Cousin wurde später für tot erklärt, seine Überreste nie gefunden.

Wenn Lazim heute Bilder der Anschläge vom 11. September betrachtet, dann muss er daran denken, wie sehr Terror auch die Überlebenden traumatisiert. Im Irak seien viele Kinder völlig unschuldig in ein Klima von Krieg, Gewalt und Terror hineingeboren worden. "Sie haben alles hautnah miterlebt und tragen eine große Angst in sich: Angst vor Entführung, Angst vor Ermordung, Angst vor Autobomben mit vielen Todesopfern." Seine eigenen beiden Kinder, Mohammed und Sarah, bringt er aus Sicherheitsgründen auch heute noch jeden Morgen persönlich in die Schule.

Autor: Munaf al Saidy, Basra
Redaktion: Rainer Sollich