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"Arbeit und Freiheit nur auf dem Papier"

Sarah Mersch, Tunis23. Januar 2016

Die Wut ist groß in Tunesien, wieder einmal. Nach dem Tod eines jungen Arbeitslosen in Kasserine, im Südosten des Landes, gibt es im ganzen Land teils gewalttätige Proteste gegen die Regierung. Aus Tunis Sarah Mersch.

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Demonstrant in Tunis (Foto: DW/Sarah Mersch)
Bild: DW/S. Mersch

"Arbeit, Freiheit, Würde!" und "Wir haben Recht auf Arbeit, ihr Diebe!" rufen die Demonstranten vor dem Gebäude des Innenministeriums in Tunis, wo sie seit Beginn der Woche fast täglich auf die Straße gehen. Es sind die gleichen Slogans, die schon bei der Revolution durch die Straßen gehallt sind. "Wir haben die gleichen Forderungen, denn in den vergangenen fünf Jahren hat sich nichts geändert", so die Studentin Noha Hajlaoui. "Wir müssen endlich aufwachen. Es ist Zeit, wieder auf die Straße zu gehen", sagt sie. "Arbeit, Freiheit und Würde, die stehen zwar in der Verfassung, aber sie existieren doch nur auf dem Papier", fügt die Schülerin Rania hinzu.

Wie viele ihrer Generation sorgen sich die beiden jungen Frauen um ihre Zukunft. Seit 2011 hat sich die wirtschaftliche Situation in Tunesien nicht verbessert, die Arbeitslosigkeit ist sogar noch gestiegen. Offiziell liegt sie bei über 15 Prozent, doch gerade unter Akademikern ist sie deutlich höher. In Kasserine im Südosten Algeriens hat mehr als ein Viertel der Bevölkerung keine Arbeit. Dort war vor einer Woche ein 28-jähriger Arbeitsloser zu Tode gekommen, als er vor dem Gouverneurssitz auf einen Mast geklettert war, um dagegen zu protestieren, dass sein Name von einer Einstellungsliste für den öffentlichen Dienst gestrichen worden war. Er starb durch einen Stromschlag.

Die Fehler der ersten Revolution vermeiden

Wenn nötig, dann müsse eine neue Revolution her, fordert Wael Naouar, Generalsekretär der linken Studentengewerkschaft UGET - allerdings, ohne die Fehler Vergangenheit erneut zu begehen: "Ohne die Islamisten, die gar nicht an der Revolution teilgenommen haben, und ohne das alte Regime, das unter dem Deckmantel der Partei Nidaa Tounes zurückgekommen ist."

Der Druck auf die tunesische Regierung wächst. Zwar gab es in den vergangenen Jahren wichtige Schritte in Richtung Demokratie - etwa die Verabschiedung einer neuen Verfassung und freie Wahlen. Aber die wirtschaftliche Situation im Landesinneren, von wo die Revolution ausging, hat sich kaum verbessert.

Angesichts der andauernden Proteste hatte die Regierung am Freitag eine landesweite Ausgangssperre von 20 Uhr bis fünf Uhr morgens verhängt, nachdem nachts zuvor in einigen Städten Banken, Geschäfte und staatliche Einrichtungen geplündert und Polizeiposten angezündet worden waren.

Demonstration in Tunis: "Nachricht an die Regierung der Welt: Kasserine ist auf der Flucht und braucht eine Heimat" (Foto: DW/Sarah Mersch)
Die Botschaft der Tunesier: "Nachricht an die Regierung der Welt: Kasserine ist auf der Flucht und braucht eine Heimat"Bild: DW/S. Mersch

Das Ende der Geduld

Staatspräsident Beji Caid Essebsi sagte in einer Fernsehansprache, er verstehe die Forderungen der Demonstranten. "Ohne Arbeit keine Würde. Wenn jemand hungrig und arm ist, dann können wir ihm nicht sagen, er solle Geduld haben." Für die jetzigen Unruhen machte er "außenstehende Elemente" und einige ausländische Medien verantwortlich und warnte vor einer Infiltrierung der Proteste durch Personen, die dem sogenannten "Islamischen Staat" nahestehen. Mehr als 260 Menschen haben die Sicherheitskräfte im Verlauf der schweren Unruhen festgenommen.

Premierminister Habib Essid hat unterdessen seine Europareise verkürzt, wo er am Weltwirtschaftsforum in Davos teilgenommen hatte. Auf der Rückreise hat er aus Frankreich das Versprechen von Präsident François Hollande mitgebracht, Tunesien in den nächsten fünf Jahren eine Milliarde Euro bereitzustellen. Das Geld soll hauptsächlich in Infrastrukturprojekte fließen.

Allerdings hatte der tunesische Staat im vergangenen Jahr zum Beispiel nur rund ein Drittel der im Haushalt für Kasserine zur Verfügung stehenden Entwicklungsgelder überhaupt ausgegeben. Die Schülerin Rania vertraut der Regierung darum schon lange nicht mehr. "Sie respektiert die Verfassung nicht, sie frisst unser Geld und ihre Kinder!" Es sei Zeit zurückzutreten, meint sie.