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Arbeiten, um zur Schule zu gehen

Knut Henkel / Mirra Bachón4. Juli 2014

In Bolivien dürfen Kinder ab einem Alter von zehn Jahren arbeiten. So hat es das Parlament entschieden. Viele Bolivianer begrüßen das. Denn die Familien sind auf das Einkommen ihrer Kinder angewiesen.

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Verkauf von Coca-Blättern auf dem Markt von Cochabamba, Bolivien (Foto: Knut Henkel)
Bild: DW/K. Henkel

Das Augenzwinkern des Busfahrers ist kaum zu sehen. Neben ihm steht ein 13-Jähriger auf und kündigt den Namen der Bushaltestelle an: "Plaza Ballivian". Deivid Pacosillo Mamani ist einer der Passagiere, die aussteigen und beim minderjährigen Beifahrer bezahlen, der neue Fahrgäste zum weißen Kleinbus heranwinkt. "Ich war auch einer dieser Jungen, die in Kleinbussen das Fahrgeld kassierten und die Namen der Haltestellen riefen", sagt der heute 25-jährige Deivid Pacosilla Mamani. So lange er denken kann, hat er gearbeitet - und schließlich zusammen mit Gleichgesinnten die erste Organisation der Kinderarbeiter im bolivianischen El Alto gegründet. Kinderarbeit gehört in seiner Heimat zum Alltag und ist auch in Nachbarländern wie Peru sehr verbreitet.

Seit dem neuesten Beschluss des bolivianischen Parlaments vom 3. Juli 2014 dürfen Kinder jetzt ab zehn Jahren arbeiten. Offiziell liegt das Alter, ab dem Kinder unter bestimmten Bedingungen arbeiten dürfen, zwar weiterhin bei 14 Jahren, allerdings ist im Ausnahmefall auch die Beschäftigung von Zwölfjährigen erlaubt. Arbeiten Minderjährige selbstständig, dürfen sie dies nach dem Parlamentsbeschluss künftig schon mit zehn Jahren tun. Die Debatte um die Herabsetzung des Alters sowie die aktuelle Entscheidung des Parlaments sorgen weltweit für Aufmerksamkeit.

Kinderarbeit in Bolivien

Nach den Zahlen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) verbringen weltweit insgesamt 168 Millionen Minderjährige einen Großteil ihrer Zeit damit, Geld zu verdienen. In Bolivien, dem ärmsten Land Lateinamerikas, sind es rund 850.000. Jedes vierte Kind Boliviens ist folglich auf einen Job angewiesen, weil das Geld zu Hause nicht ausreicht, um alle nötigen Ausgaben zu bestreiten. "Das ist die Realität in Bolivien", sagt Elizabeth Patiño Durán, Kinderrechtsexpertin der Hilfsorganisation "Terre des Hommes" im Regionalbüro Cochabamba.

Nicht kriminalisieren, sondern regulieren

Mit mehreren Demonstrationen, zuletzt im Dezember 2013 in La Paz, hatten sich die minderjährigen Arbeiter zu Wort gemeldet. Anlass waren die Beratungen im bolivianischen Parlament über das neue Kinder- und Jugendgesetz. Dabei seien die Betroffenen jedoch gar nicht angehört worden, kritisiert Deivid Pacosillo Mamani. Er ist heute als Berater der UNATsBO, der Dachorganisation der Kinderarbeiter von Bolivien, aktiv. "Die Kinderarbeiter haben es geschafft die Abgeordneten zu sensibilisieren. Warum? Weil die Mehrheit der Abgeordneten und Senatoren nicht aus dem Akademiker-Milieu kommen, sondern Menschen sind, die früh anfangen mussten zu arbeiten", erklärt der 25-Jährige und fährt fort: "Dann haben sie die Senatoren und Abgeordneten gefragt, wie es in ihrer Jugend war? Ob sie als Kind arbeiten mussten." Das sei bei vielen der Fall gewesen.

Deivid Pacosillo , Gründer der Organisation der Kinderarbeiter von El Alto, Bolivien. (Foto: Knut Henkel)
Deivid Pacosillo hat als Kind gearbeitet, damit er zur Schule gehen kannBild: DW/K. Henkel

Das war der Durchbruch. Schließlich wurde eine Delegation der Kinderarbeiter von Präsident Evo Morales empfangen, der selbst als Kind Zuckerrohr geschlagen und Kokablätter geerntet hat. Für Morales ist die Forderung der minderjährigen Arbeiter nach einem Ende der pauschalen Verurteilung der Kinderarbeit nachvollziehbar. Kinderarbeit sei Teil der nationalen Kultur und trage dazu bei, dass die Kinder ein soziales Bewusstsein entwickeln, so der Präsident. Morales spricht sich gar dafür aus, das Alter, ab dem Kinder arbeiten dürfen, überhaupt nicht zu begrenzen.

Wir wollen arbeiten!

Der ehemalige Kinderarbeiter Deivid Pacosillo Mamani hat die Universität in El Alto besucht und arbeitet nun als Pädagoge in einer Sozialeinrichtung für Kinderarbeiter. Das sei, so Guillermo Dema von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), aber nicht die Regel. "Wir glauben, dass die Kinderarbeit in jungen Jahren Ausgrenzung und Armut festschreibt", betont der Experte für Arbeitsrecht.

El Alto - Panorama. (Foto: Knut Henkel)
In El Alto müssen tausende Kinder arbeiten, um zum Familieneinkommen beizutragenBild: DW/K. Henkel

Die ILO will, dass weniger Kinder arbeiten und hat eine weltweite Kampagne initiiert. "Rote Karte gegen Kinderarbeit" ist die Aktion überschrieben. Sie sagt nicht nur besonders gefährlichen, sondern sämtlichen Formen der Kinderarbeit den Kampf an. Vor allem richtet sie sich gegen verschiedene Formen der Zwangsarbeit, wie etwa Prostitution und Sklaverei.

Für Elizabeth Patiño haben Forderungen zur Abschaffung der Kinderarbeit wenig mit der Realität in Bolivien zu tun. Sie plädiert für mehr Flexibilität, weil Verbote die Kinderarbeit in den Untergrund verbannen, wo die Ausbeutung der Minderjährigen sehr viel einfacher ist. Wichtiger seien effektive Kontrollen, um die Ausbeutung und die Arbeit von Kindern in Bergwerken, Steinbrüchen oder bei der Zuckerrohrernte zu unterbinden.