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Abschalten - und dann?

Brigitte Osterath14. September 2011

Ein Kernkraftwerk, das vom Netz geht, löst sich nicht einfach so in Wohlgefallen auf: Die Stilllegung ist ein langwieriger und komplizierter Prozess.

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AKW Lubmin wird abgerissen Foto: Stefan Sauer dpa
Bild: picture-alliance/dpa

Abgeschaltet ist das Kernkraftwerk im rheinland-pfälzischen Mülheim-Kärlich, nördlich von Koblenz, seit 1988. Seit 2004 wird es zurückgebaut, also abgerissen. Die Stilllegung des Atomkraftwerks Greifswald-Lubmin hat bereits 1995 begonnen und ist noch immer nicht abgeschlossen.

Doch auch wenn der Rückbau ein langwieriger Prozess ist, der oft Jahrzehnte braucht: Sobald das Atomkraftwerk einmal abgeschaltet ist, sinkt die Gefahr, dass ein Unfall passieren könnte, dramatisch, sagt Joachim Knebel, wissenschaftlicher Leiter am Karlsruher Institut für Technologie KIT: "Ein Kernkraftwerk abschalten heißt, die nukleare Kettenreaktion zu stoppen. Und die ist das potenziell Gefährliche an einem Kernkraftwerk."

Nur wenn eine Kettenreaktion im Gange ist oder in Gang kommen kann, ist ein Atomunfall im eigentlichen Sinne möglich. Der Physiker Stefan Thierfeldt, der sich im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung intensiv mit der Stilllegung von Kernkraftwerken beschäftigt hat, sagt: "Das ist wie ein Auto, dem der Motor fehlt. Das fängt auch nicht plötzlich an, von alleine loszufahren."

Wärme: gewollt und doch gefürchtet

In einem Kernkraftwerk spaltet man schwere, große Atomkerne - etwa von Uran - durch kleine Teilchen, die Neutronen; dabei entsteht Wärme. Diese verdampft Wasser, und der Wasserdampf erzeugt über einen Generator Strom – nicht anders als im Kohlekraftwerk auch. Was dort die Kohle ist, ist im Kernkraftwerk der Kernbrennstoff – meist Urandioxid – in stäbchenförmigen Brennstäben, die wiederum zu Brennelementen gebündelt sind. Uran wird durch Neutronen gespalten; dabei entstehen wieder neue Neutronen, die erneut Uranatome spalten können – so ist die Kettenreaktion in Gang gesetzt.

Prinzip der Kernspaltung: Kettenreaktion.
Prinzip der Kernspaltung am Beispiel von Uran 235: Eine Kettenreaktion wird ausgelöst.Bild: picture alliance / dpa

Um ein Atomkraftwerk abzuschalten, fährt man Steuerstäbe in den Reaktorkern. Sie absorbieren Neutronen – es kann dann keine Kettenreaktion mehr stattfinden. Wärme produzieren die Brennelemente dann allerdings auch weiterhin – wenn auch sehr viel weniger als zuvor, erläutert Knebel: "Der natürliche Zerfall der radioaktiven Stoffe in den Brennelementen läuft auch nach dem Abschalten noch weiter. Diese Nachzerfallswärme, die dabei entsteht, beträgt bei Schnellabschaltung etwa sieben Prozent der Wärmeleistung eines angeschalteten Kernkraftwerks." Die Leistung des Kernkraftwerks fällt also nicht direkt auf Null ab. "Nach drei Monaten ist die Restwärme bereits auf unter ein Prozent gesunken", so Knebel.

Das Gefährliche an dem abgeschalteten Atomkraftwerk bleiben vorerst die Brennelemente. Sie gilt es bei Stilllegung des Kraftwerks vorsichtig aus dem Reaktorkern zu entfernen. Die Nachwärme durch den radioaktiven Zerfall ist noch immer so groß, dass die Luft alleine nicht ausreicht, diese Wärme abzuführen – die Brennelemente kommen daher für ganze drei bis fünf Jahre in ein Abklingbecken mit Wasser.

Die Kühlkette muss ständig aufrecht erhalten werden, sagt Knebel: "Falls die regulären Kühlsysteme und sämtliche Notfallsysteme ausfallen und das Wasser im Abklingbecken vollständig verdampft, könnten die Brennelemente so heiß werden, dass es unter Umständen doch noch zu einem Schmelzen der Brennelemente kommen könnte."

Zunächst beginnen dann die metallischen Hüllrohre der Brennelemente zu schmelzen, erklärt Wolfgang Neumann, Strahlenexperte der Firma intac in Hannover, die sich laut eigener Homepage mit der kritischen Bewertung der Atomenergienutzung beschäftigt. Durch chemische Prozesse könne Wasserstoff freiwerden, der explodieren kann - so wie in Fukushima geschehen, sagt Neumann.

Becken mit Brennelementen (Foto: Ulrich Perrey dpa/lno)
Brennelemente in einem WasserbeckenBild: picture-alliance/dpa

Das alles sei theoretisch zwar möglich, praktisch aber extrem unwahrscheinlich, beruhigt Stefan Thierfeldt: "Die Becken sind sechs bis acht Meter hoch mit Wasser gefüllt und es gibt etliche Notfallsysteme, welche die Kühlung aufrecht erhalten. Selbst bei Leckagen im Becken steht sehr schnell neues Wasser zur Verfügung."

Alles auseinander nehmen

Nach drei bis fünf Jahren haben sich die Brennelemente so weit abgekühlt, dass Luft die Wärme abführen kann. "Dann kann nichts mehr passieren", sagt Joachim Knebel. Sie werden in Castor-Behälter verpackt und in ein Zwischenlager transportiert.

Sind die Brennelemente entfernt, verbleibt noch etwa ein Prozent der Radioaktivität in der Anlage, erläutert Sascha Gentes, Professor am Institut für Technologie und Management im Baubetrieb am KIT. "Der Rückbau erfolgt dann von außen nach innen", erläutert er. Das gesamte Gebäude werde Stück für Stück auseinander gebaut und von Radioaktivität befreit. In den hoch aktivierten Teilen der Anlage, also etwa am Reaktordruckbehälter, arbeitet man über fernbediente Systeme: Arbeiter steuern die Greifer und Sägen über ein Kamerasystem und einen Bildschirm, damit sie selbst nicht in die Nähe der Strahlenquellen kommen.

"Beton- oder Stahlteile werden dekontaminiert, indem man sie unter Hochdruck reinigt oder die obersten paar Millimeter abfräst", erläutert Gentes. Unbelastete Materialien lassen sich recyceln, radioaktive Materialien müssen als radioaktiver Abfall entsorgt werden.

Atomkraftwerks Lubmin wird rückgebaut Foto: Stefan Sauer dpa/lmv
Demontage des Greifswalder Atomkraftwerks LubminBild: picture-alliance/dpa

Direkt beginnen – oder erst warten

Beginnt der Rückbau der Anlage gleich nach Abschalten des Kraftwerks, benötigt er mindestens zehn Jahre. Realistisch seien jedoch mehr, erläutert Gentes, denn die benötigten Genehmigungsverfahren zögen sich oftmals hin.

Eine andere Variante des Rückbaus dauert noch sehr viel länger: Beim "sicheren Einschluss" werden die Brennstäbe zwar aus dem Reaktorkern entfernt, die Anlagen bleiben aber etwa 30 Jahre zunächst unangetastet. Während dieser Zeit warten die Brennelemente im Abklingbecken auf ihre spätere Entsorgung – natürlich sind sie ständig zu kühlen. Das Gebäude ist ununterbrochen zu belüften und zu bewachen. Der Sinn des Ganzen: Hier macht man sich einfach die Zeit zunutze, denn nach 30 Jahren ist viel radioaktives Material zerfallen. Der spätere Rückbau wird dann einfacher, und weniger gefährliches Material ist endzulagern.

Teuer sind allerdings beide Verfahren: Laut Energiekonzern RWE liegen die Kosten für einen Kernkraftwerkrückbau - vom Abschalten an gerechnet - zwischen 500 Millionen und einer Milliarde Euro.

In einem stillgelegten Atomkraftwerk kann zwar rein theoretisch noch immer ein Atomunfall passieren, solange noch Brennelemente dort lagern – die Wahrscheinlichkeit ist jedoch sehr gering, und auch sehr viel geringer als im Betriebzustand. Sobald die Brennelemente abtransportiert seien, sei ein Atomunfall schon rein physikalisch nicht mehr möglich, sagt Thierfeldt: Es bestehe daher keine Gefahr mehr für die Bevölkerung. Wolfgang Neumann ist da anderer Meinung: "Erfolgt eine Stilllegung nicht sachgemäß, kann viel Radioaktivität frei werden." Auch das sei für die Anwohner gefährlich - wenn auch nicht so verheerend wie ein Super-GAU.