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„Auch den dunklen Seiten der Geschichte stellen“

10. Februar 2005

Der Völkermord an den Armeniern (1915–1917) gilt noch immer als Tabu-Thema in der Türkei. Im Gespräch mit DW-RADIO fordert Ralph Fücks von der Heinrich-Böll-Stiftung eine offene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.

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Interview mit DW-RADIO/Türkisch

DW-RADIO/Türkisch: Herr Fücks, welchen Stellenwert hat die Armenier-Debatte im Zusammenhang mit dem EU-Kurs der Türkei?

Ralph Fücks: Ich glaube, dass sie sowohl für die Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur in der Türkei von Bedeutung ist, aber auch für die Akzeptanz eines türkischen Beitritts in der europäischen Öffentlichkeit, nicht im Sinne einer formalen Beitrittsbedingung, aber doch im Sinne eines Vertrauens darauf, dass die Türkei sich auch den dunklen Seiten ihrer Geschichte stellt und dass sie eine offene Kultur der Meinungsfreiheit entwickelt. Das gehört doch zum Selbstverständnis der Europäischen Union.

Die Türkei argumentiert, dass es dabei um Ereignisse geht, die vor der Gründung dieser modernen Republik 1923 passiert sind. Kann man von den Türken verlangen, dass sie auch Geschichte und die Fehler, die dunklen Seiten des Osmanischen Reichs mit übernehmen?

Nun es ist ja nicht eine Frage der Schuld derjenigen, die heute leben und die heute Regierungsverantwortung tragen. Aber es gibt auch die historische Verantwortung einer Nation auch für die Verbrechen, die in ihrem Namen begangen worden sind. Das gehört doch auch zur Vorgeschichte der kemalistischen Republik, die man nicht einfach heute der Vergessenheit preisgeben kann. Ich glaube, dass eine demokratische Zukunft auch erfordert, dass man sich mit den Untaten der Vergangenheit offen auseinandersetzt. Nur darüber entsteht Vertrauen.

Die Kommission für die Anpassung an die EU des türkischen Parlaments hat sich bereit erklärt, sich in der nächsten Zeit mit der armenischen Minderheit und auch mit Historikerin zusammenzusetzen. Sollten Ihrer Meinung nach auch Historiker aus Europa mit dabei sein?

Ich glaube es wäre gut, wenn auch Historiker aus Ländern, die nicht unmittelbar in diese Geschichte verwickelt sind, dabei wären. Die könnten doch eine moderierende und eine objektivierende Rolle spielen. Ich möchte auch betonen, gut ist, dass es jetzt doch zunehmend Signale in der Türkei gibt, das man sich doch dieser Geschichte jetzt unbefangener bereit ist, zu nähern und dieses harte Tabu und die strafrechtliche Ahndung jeder Kritik an der damaligen Politik des türkischen Staates jetzt aufgeweicht werden.

Nun hat die Türkei ja auch gesagt, dass Historiker darüber urteilen sollten, ob es sich tatsächlich um einen Völkermord handelt oder nicht. Aber in Deutschland geht die Debatte ja vielmehr darum, dass der Bundestag den Völkermord als solchen anerkennen und auch die Türkei zu entsprechenden erforderlichen Schritten auffordern sollte. Wie stehen Sie dazu?

Nun es gibt das Beispiel Frankreichs. Und ich gehe davon aus, dass im Zusammenhang mit dem 90. Jahrestag dieses Genozids die Debatte in ganz Europa wieder aufflammen wird. Wichtiger als einen formellen Beschluss des Bundestages finde ich, dass die Diskussion tatsächlich in Gang kommt, und zwar sowohl in der Türkei wie in Deutschland selbst. Die Fraktionen müssen entscheiden, ob sie es bis zu einer Entschließung im Parlament kommen lassen. Das muss aber gut kommuniziert werden, damit es nicht als Affront erscheint. Andererseits halte ich nichts davon, sich von der türkischen Regierung erpressen zu lassen, wenn es um diese Frage geht.

Das Interview führte Baha Güngör

DW-RADIO/Türkisch, 9.2.2005, Fokus Ost-Südost