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"Auch der Westen hätte zu Reformen bereit sein müssen"

9. November 2004

Die Wiedervereinigung braucht ihre Zeit, sagt der ehemalige Ministerpräsident Sachsens, Kurt Biedenkopf (CDU). Im DW-Interview ruft er die Deutschen auf, diesen Prozess endlich als positive Herausforderung zu begreifen.

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Kurt Biedenkopf: Kein Gefühl der Ohnmacht im OstenBild: AP

DW-World: Herr Biedenkopf, meinten West- und Ostdeutsche die gleiche Freiheit, als sie über den Fall der Mauer jubelten?

Kurt Biedenkopf: Ich glaube schon! Die Menschen im Westen waren ja frei seit 40 Jahren und wussten wohl nicht mehr so recht, wie kostbar die Freiheit ist. Die Menschen im Osten haben sich unter Einsatz ihres Lebens in den großen Demonstrationen vor dem 9. November diese Freiheit erkämpft.

Wenn nun im Westen die Freiheit eine Art Gegenbegriff zum Kommunismus war. Was war dieser Begriff "Freiheit" dann im Osten. Ging es um die Freiheit zum Konsum?

Die Freiheit im Westen war keine Gegenfreiheit zum Kommunismus. Ich glaube, das ist eine völlig unzulässige Verkürzung. Und der Osten wollte nicht konsumieren, sondern die wichtigste Äußerung der Freiheit, die sich die Menschen wünschten, war reisen zu dürfen. Das heißt, nicht mehr eingesperrt zu sein. Eine Konsumfreiheit ist in Ostdeutschland nach dem Mauerfall nie so gefordert worden.

Es gibt im Osten so ein Gefühl von Ohnmacht...

Wo finden Sie dieses Gefühl von Ohnmacht? Ich lebe in Sachsen. Ich bin von Menschen umgeben, die nach wie vor dankbar sind. Und mir das auch sagen, dass ihr Land wieder da ist und wieder aufgebaut ist. Dass die großen Städte im Land sich hervorragend entwickelt haben. Dass wir kämpfen müssen, dass wir mit der Unbill der wirtschaftlichen Entwicklung kämpfen müssen, ist für die Mehrzahl natürlich nicht nur ein Ausdruck von Freiheit. Aber es ist auch eine Herausforderung. Und ich glaube, wenn wir Deutschen nicht anfangen, diese Herausforderung als etwas Positives zu empfinden, dann werden wir uns alle in die Situation reden, die Sie mit Ihren Fragen beschreiben.

Jeder dritte Euro, der im Osten ausgegeben wird, stammt aus westlichen Transferzahlungen...

Ein wesentlicher Teil dieser Transferzahlungen wird ausgegeben für Produkte, die im Westen erzeugt sind. Das heißt, das Geld fließt zum erheblichen Teil wieder zurück.

...aber drückt das nicht eine wirtschaftliche Abhängigkeit aus?

Natürlich drückt das eine wirtschaftliche Abhängigkeit aus, die die Folge der Tatsache ist, dass sich der Osten nicht wie der Westen nach 1945 entwickeln konnte. Dass man solche enormen Defizite, wie sie durch 40 Jahre weiterer Unfreiheit, weiterer Zwangswirtschaft ergeben, nicht innerhalb von 15 Jahren überwinden kann. Ich habe immer gesagt, dass dieser Prozess eine Generation dauert. Und wir haben uns im Solidarpakt II darauf verständigt, dass so lange Hilfe nötig ist.

Also, wie Sie sagen, eine Frage der zeitlichen Perspektive. Im Westen wünscht sich jeder Vierte die Mauer zurück. Das sagt eine Forsa-Umfrage. Fehlt es auch hier an einer Vision?

Nein. Man lebt nicht von morgens bis abends mit Visionen. Und diese Fragen, wünschen Sie sich die Mauer zurück,....da kann man auch fragen: Haben Sie sich über die Ossis geärgert? Das sind doch keine politisch relevanten Antworten. Wenn es tatsächlich dazu käme, wenn jemand auf die Idee käme, die Mauern wieder zu bauen, würden sie von beiden Seiten wieder eingerissen.

War es ein Fehler, die DDR einfach an die bestehende Bundesrepublik anzudocken, ohne wirklich zusammenzuwerfen und was Neues zu wagen. Aus Versatzstücken von hüben wie drüben?

Nicht aus Versatzstücken, sondern: Es war ein Fehler, in die deutsche Einheit hinein zu treten, ohne dass der Westen bereit war, sich auch zu reformieren. Das war ein Fehler. Aber den Fehler können wir jetzt nachträglich, wenn auch mit viel größeren Anstrengungen, wieder gutmachen.

Sie würden also nicht sagen, die Deutschen haben ihre Souveränität verspielt?

Nein!