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Berlin von oben

Tam Eastley29. November 2013

Von wo hat man den besten Ausblick? In einer Stadt wie Berlin, die flach ist wie ein Pfannkuchen, gibt es darauf nur eine Antwort: man muss auf’s Dach steigen! DW-Reporterin Tam Eastley hat genau das getan.

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Aussichtsplattform Humboldthöhe im Berliner Humboldthain in der Abendsonne DW/Christina Deicke
Bild: DW/C. Deicke

Berlin ist flach. Mir ist das sehr recht. Ich bin Joggerin und fahre gern Fahrrad. Hügel wären mir und meinem bescheidenen sportlichen Ehrgeiz nur im Weg. Ich finde es auch sehr beruhigend, dass ich in dieser flachen Stadt den Fernsehturm von fast überall sehen kann - falls ich mich irgendwann einmal verlaufe. Das kann schnell passieren, denn diese Stadt ist riesengroß.

Außer kleinen Hügeln, zumeist Schuttbergen aus dem Zweiten Weltkrieg, gibt es weit und breit keine natürliche Erhebung, die auch nur entfernt an einen Berg erinnert. Aus der Vogelperspektive aber bekommt Berlin plötzlich so etwas wie eine Struktur und einen Charakter. In den scheinbar planlos zusammen gewürfelten Bezirken mit ihrem Straßengewirr wird dann wie durch Zauberhand eine Matrix erkennbar.

Wer Berlin von oben erleben will, sollte sich eine Tageskarte für die Berliner Bahnen kaufen. Denn die Orte, die ich ihm dafür ans Herz legen möchte, sind im ganzen Stadtgebiet verstreut.

Panoramablick vom Parkdeck

Erste Station ist ein Einkaufszentrum im Bezirk Neukölln. Er gilt als Problemkiez, Szeneviertel und Multi-Kulti-Versuchslabor. Die Neukölln Arcaden liegen ganz in der Nähe der U-Bahnstation Rathaus Neukölln. Obwohl ich hier in der Gegend lebe, habe ich erst durch einen Reiseführer von dem phantastischen Aussichtspunkt auf seinem Dach erfahren. Dort liegt das Parkdeck. Im Sommer wird es zur Partyzone, wartet aber das ganze Jahr über mit einem 360° Panoramablick auf.

Mein Ziel ist der sechste Stock. Ich besteige den Fahrstuhl und drücke die Fünf. Der Knopf für die Sechs ist nämlich kaputt. Im fünften Stock steige ich aus und laufe langsam und vorsichtig die Rampe zum Parkdeck hoch. Autos habe ich hier zwar noch nie gesehen, aber man weiß ja nie.

Oben angekommen, liegt mir Berlin zu Füßen. Ein unverstellter Blick auf die ganze Stadt. Markante Gebäude wie das Rote Rathaus, der Fernsehturm oder der Reichstag sind mit Leichtigkeit auszumachen. Berlin erstreckt sich bis zum Horizont - grenzenlose Weite. Aber das Beste an diesem Aussichtspunkt ist: von hier sieht man Neukölln wie mit einer Lupe - Gebäude und Hinterhöfe, die man sonst vielleicht nie entdeckt hätte. Ein Apartmenthaus im Westen zum Beispiel: seine Fassade ist eine Komposition aus grünen und beigen Mosaiken. Bewohner sitzen telefonierend auf ihren Balkonen. Um die Schornsteine wickeln sich knallbunte Graffitis. Von dem Lärm unten auf der vierspurigen Karl-Marx-Straße kriege ich hier oben nichts mit. Leise Musik weht von einem Wohnhaus nebenan herüber. Das gleichmäßige Rauschen der Klimaanlagen des Gebäudes erzeugt einen angenehmen Geräuschteppich.

Gipfelstürmer im Park

Mein nächster Aussichtspunkt liegt im Norden von Berlin. Im Arbeiterbezirk Wedding steht ein ehemaliger Flakturm, gebaut während des Zweiten Weltkriegs. Er befindet sich im Humboldthain, einem Park nahe des Bahnhofs Gesundbrunnen.

Zwischen 1941 und 1942 wurden in Berlin auf den persönlichen Befehl Hitlers Flaktürme errichtet. Sie waren Teil der deutschen Luftabwehr gegen die Alliierten. In den Türmen befanden sich riesige Schutzräume für die Bevölkerung. 15.000 Menschen konnten in einem Turm Zuflucht finden. Nachdem Berlin von den Alliierten erobert worden war, wurden diese militärischen Hinterlassenschaften zerstört. Im Humboldthain sprengten die Franzosen einen Teil der Anlage und füllten die Trichter mit Kriegstrümmern auf.

Aussichtsplattform Humboldthöhe
Die Aussichtsplattform Humboldthöhe im WeddingBild: DW/C. Deicke

Heute ist Gras darüber gewachsen - für Jogger, Spaziergänger, verliebte Paare, Hunde und ihre Herrchen und Frauchen sowie für Menschen, die unter Bäumen auf einer Bank ihr Pausenbrot genießen. Der Humboldthain ist ein beliebter Park - und sogar einer mit Ausblick. Denn auf einem der ehemaligen Flaktürme, einem gewaltigen Betonklotz, ist eine Aussichtsplattform in 85 Metern Höhe eingerichtet worden.

Von hier oben gleitet mein Blick über den Park. Am nördlichen Ende bleibt er an Bahngleisen hängen. S-Bahnen und Züge zischen vorbei. Vom nahen Bahnhof schallen gelegentlich Lautsprecheransagen herüber und übertönen das Vogelgezwitscher. Im Landeanflug auf Berlin Tegel fliegen Flugzeuge niedrig über die Dächer hinweg. Alte Industrieschlote ragen aus dem Häusermeer hervor. Hier im Wedding dominiert die Nachkriegsarchitektur. Viel schmuckloser Beton, dazwischen einzelne knallbunte Gebäude. Kein Stuck, nichts Monumentales, alles schlicht und einfach. Wir erleben die Formensprache dieser Wohnhäuser heute vielleicht als trist. Für die Architekten der Nachkriegsjahre war es der Aufbruch in eine neue, bessere Zeit.

Beim Abstieg zum Fuß des Flakturms fallen mir Karabinerhaken auf, die an den Mauervorsprüngen angebracht sind. Der Deutsche Alpenverein und andere Kletterer nutzen sie bei gutem Wetter - definitiv aufregender als in einer Kletterhalle. Der Publizist und Blogger Paul Scraton lebt im Wedding und schreibt in seinem Blog: „Am Wochenende habe ich beobachtet, wie vier Kletterer auf dem Betonklotz unterwegs waren. Es hat ihnen offensichtlich Spaß gemacht, Touristen zu erschrecken. Die warteten auf der Aussichtsplattform auf ihre Führung durch die Ruinen und standen an der Brüstung. Plötzlich sehen sie Hände und ein Gesicht zu ihren Füßen auftauchen – auf der falschen Seite der Brüstung.“

Kletterwand am Flakturm im Berliner Humboldthain
Kletterwand am Flakturm, oben die AussichtsplattformBild: DW/C. Deicke

Vom Zentrum in die Weite schweifen

Mitten in der Stadt, am Alexanderplatz, steht mein Favorit unter den Aussichtspunkten: das Hotel Park Inn. Ich fahre mit dem Fahrstuhl in den 37. Stock - dieser Knopf funktioniert! - und steige dann die Treppe zum Dach hinauf. Das ist leider nicht umsonst: der Besuch der Aussichtsplattform kostet drei Euro, auch für diejenigen, die hier im Hotel übernachten. Die enge Plattform ist nichts für Leute mit Platzangst. Aber ein Ausflug hierher ist immer noch billiger, als auf den Fernsehturm zu fahren. Das kostet 12,50 Euro.

Der Wind pfeift mir um die Ohren. Egal, ich „schwebe“ 150 Meter über Berlin. Und mein Freund, der Fernsehturm, ist zum Greifen nah. Zu meinen Füßen ein Stück des alten Berlin, das Nikolai-Viertel auf der Spreeinsel, flankiert von der Moderne: silbern schimmernden Hochhäusern. Bis zum Horizont erstreckt sich ein Meer ziegelroter Dächer. Die Wohnhäuser wirken wie winziges Spielzeug, dazwischen Kirchtürme und Schornsteine. Deutlich erkenne ich die typischen Berliner Mietshäuser der Jahrhundertwende, angelegt mit bis zu drei Hinterhöfen.

Alexanderplatz mit Fernsehturm und Hotel Park Inn in der Abendstimmung
Das Park Inn (rechts) - eines der höchsten Gebäude BerlinsBild: dapd

Über den Dächern von Berlin - ein schönes Gefühl. Ich denke an mein eigenes Dach. Manchmal, wenn ich an meinem Schreibtisch sitze, sehe ich über die Fassade des gegenüberliegenden Hauses Schatten huschen oder höre Geräusche von oben, als ob jemand dort spazieren geht. Ich war noch nie auf unserem Dach. Sollte ich vielleicht mal versuchen.