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Massengrab in Abu Salim

27. September 2011

Nach der Entdeckung eines Massengrabs in Tripolis suchen Menschen dort nach Spuren ihrer vermissten Angehörigen. 1300 Tote sollen auf einem Feld liegen - alle Opfer eines Massakers von 1996 im Gefängnis von Abu Salim.

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Journalisten und Rebellen betrachten Knochenreste auf einem Acker (Foto: Ammar Abd Rabbo / ABACAPRESS.COM)
Überall auf dem Acker verteilt befinden sich Knochen und KnochenresteBild: picture-alliance/abaca

Einschüchternd hoch und massiv, mit Stacheldrahtrollen gesichert, ist die langgezogene Mauer des Gefängnisses Abu Salim weithin sichtbar. Das Feld davor ist von der Sommersonne verdorrt; die spärlichen Wildgräser und Sträucher vertrocknet. Auf den ersten Blick ein normaler brach liegender Acker. Aber wer die trockene Erde nur ein wenig zur Seite kratzt, stößt überall auf Knochen. Denn hier, in einem Außenbezirk der libyschen Hauptstadt Tripolis, liegen die sterblichen Überreste von fast 1300 Menschen - umgebracht von den Schergen des Gaddafi-Regimes. Entdeckt wurde das Massengrab am vergangenen Wochenende (24./25.09.2011).

Willkürliche Verschleppungen

Ein Mann steht auf dem Gelände des Massengrabs vor den Gefängnismauern. (Foto: Ammar Abd Rabbo / ABACAPRESS.COM)
Das Massengrab befindet sich unmittelbar vor dem Gefängnis von Abu SalimBild: picture-alliance/abaca

Soumaia bin Jabr ist eine der vielen Libyer, die in diesen Tagen das Massengrab besuchen. In den Händen hält die Frau mit dem dunkelblauen Kopftuch Fotos. "Das ist Salah bin Jabr", sagt Soumaia - einer ihrer vier Brüder, von denen sie vermutet, dass sie alle hier beim Gefängnis Abu Salim verscharrt sind. "Er war beim Gebet, als er verschleppt wurde. Dabei sind wir durchschnittliche Menschen und keine Extremisten."

Unter dem Vorwurf Fundamentalisten zu sein, wurden in den 90er Jahren viele Libyer vom Regime weggesperrt - Willkür, um in der Bevölkerung Schrecken zu verbreiten. Ohne formale Anklage landeten bis zu zehn Gefangene in Zellen, zusammengepfercht auf wenigen Quadratmetern. Die Versorgung war schlecht, Besuche waren nur selten gestattet. 1996 dann erhoben sich im Gefängnis Abu Salim die Insassen, um bessere Haftbedingungen und Gerichtsverfahren zu erstreiten. Der Aufstand wurde niedergeschlagen. Die 1300 Gefangenen, deren sterbliche Überreste auf dem Feld bei Abu Salim verscharrt sind, wurden umgebracht.

"Vier Stunden lang Maschinengewehrsalven"

Bone fragments at the site which is thought to be a possible mass grave near to Abu Salim prison in Tripoli, Libya, Sunday, Sept. 25, 2011, where some 1,270 inmates are thought to have been killed by the regime of Moammar Gadhafi in a 1996 prison massacre. Various bones have been found scattered over the cactus-covered desert field near to the prison, after information was given by a captured former security guard who revealed its location, according to an announcement on Sunday by Dr. Ibrahim Abu Sahima of the government committee overseeing the search for victims of the former regime. Officials with the Libyan Transitional Council are expected to ask for international assistance in identifying the remains. (Foto:Abdel Magid al-Fergany/AP/dapd)
Zum großen Teil sind nur noch Knochenfragmente vorhandenBild: dapd

Abdel Hafid Abu Aisha, der nicht weit vom Gefängnis entfernt wohnt, hat seinerzeit die Schüsse gehört. "Vier Stunden lang ertönten am Nachmittag – nach dem Freitagsgebet – die Maschinengewehrsalven", erzählt er. "Dann war Pause, bis es am Samstagmorgen weiterging." Selbstverständlich sei es den Anwohnern verboten gewesen, zu gucken, was los war. Abu Salim war militärisches Sperrgebiet.

Andere Menschen haben bei dem Massaker hingegen mitgemacht oder es zumindest gesehen - als Soldaten oder Gefängnisaufseher. Und diese Gefängnisaufseher haben ein weiteres Verbrechen begangen, wie Salim Mayuff sagt: "Ungefähr zehn Jahre lang ist den Familien der Gefangenen gesagt worden, sie sollten ihren Verwandten Essen ins Gefängnis bringen. Und manche mussten sich das Geld dafür vom Munde absparen – und sind darüber gestorben." Die Spitze des Zynismus aber sei es gewesen, wenn sie den Verwandten gesagt hätten, bringt den Gefangenen neue Kleidung - sie sind im Gefängnis dick geworden, so Mayuff. "Deshalb müssen nicht allein Muammar al-Gaddafi und seine engsten Vertrauten vor Gericht, sondern auch die die Mitläufer, von denen es sehr, sehr viele gibt", fordert Mayuff.

Der Anfang vom Ende Gaddafis

Zwei Männer halten Knochenstücke in der Hand. Einer der beiden trägt eine Maschinenpistole über der Schulter (Foto: Ammar Abd Rabbo / ABACAPRESS.COM)
Aufsammeln gefundener KnochenstückeBild: picture-alliance/abaca

Erst vor sechs Jahren räumte das alte Regime ein, dass es 1996 ein Blutbad in Abu Salim gegeben hatte. Es hieß, es sei zu Auseinandersetzungen mit einer islamistischen Gruppe gekommen. Vielen Verwandten von umgekommenen Gefängnisinsassen wurde damals jedoch gesagt, ihre Brüder, Söhne oder Väter seien eines natürlichen Todes gestorben. Abu Salim geriet damit jedoch nicht in Vergessenheit. Ganz im Gegenteil, es war der Anfang vom Ende Gaddafis.

Die meisten der 1300 Ermordeten stammten aus Bengasi. Und genau dort protestierten vergangenen Februar Anwälte, die Familien der Getöteten vertraten. Sie forderten eine Aufklärung der Ereignisse in Abu Salim. Als bei dieser Demonstration zwei der Anwälte verhaftet wurden, löste das eine Welle von Demonstrationen aus. Die Revolution der libyschen Bevölkerung gegen den Diktator hatte begonnen.

Es geht ums Gedenken und um die Wahrheit

Heute sammeln viele derer, die nach Abu Salim kommen, ein paar Knochen zusammen und schichten sie auf - in der Mitte eines Kreises, den ein paar Steine bilden. Sie machen das, um der Toten zu gedenken, ob nun Verwandte von ihnen in dem Massengrab liegen oder nicht. Denn sie sagen, dass dort Verwandte von allen Libyern lägen.

In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, dass die neue libysche Führung die internationale Staatengemeinschaft dazu aufgefordert hat, den Libyern bei der Untersuchung des Massengrabes mit Spezialisten zu helfen. Es geht ums Gedenken und um die Wahrheit von Abu Salim - wie auch Soumaia bin Jabr sagt, die ihre vier Brüder in dem Massengrab vermutet.

Autor: Björn Blaschke

Redaktion: Marco Müller