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Auf nach Istanbul!

16. Februar 2012

Die Wirtschaft sieht den Fachkräftemangel in Deutschland zunehmend als Geschäftsrisiko. Dennoch planen viele Einwandererkinder ihre Karriere im Ausland, weil sie in Deutschland kaum Job-Chancen sehen.

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Ausländische Studenten in DeutschlandBild: picture alliance/dpa

Tugba schreibt gerade ihre Bachelor-Arbeit, will dann noch den Master machen und hofft auf eine Karriere in ihrem Land. Ihr Land ist Deutschland, die Heimat ihrer Eltern ist die Türkei. Als Gastarbeiterkind der dritten Generation hat Tugba Akyazi ihr Bestes gegeben, um sich beruflich zu qualifizieren. Doch die Deutschtürkin ist verunsichert, ob sie in Deutschland überhaupt einen Job bekommt: "Ich sehe in meinem eigenen Freundeskreis, dass viele hunderte Bewerbungen rausschicken und nichts bekommen", sagt Tugba. Das mache ihr Angst. Hinsichtlich einer Karriere in Deutschland sei sie inzwischen pessimistisch. Sogar mit sehr guten Abschlüssen fände man monatelang keine Arbeit. „Sobald sich Freunde von mir aber im Ausland bewerben, werden sie sofort genommen – teils zu Top-Konditionen“, sagt Tugba Akyazi. Obwohl die 26-Jährige am liebsten in Deutschland bleiben will, überlege sie nun, sich im Ausland zu bewerben. Denn zu viel Zeit für Bewerbungen will sie nicht vergeuden.

Studentin Tugba Akyazi (26) (Foto:DW/Ulrike Hummel)
Studentin Tugba Akyazi (26) will keine Zeit vergeudenBild: Ulrike Hummel

Kaum Aufstiegsmöglichkeiten in Deutschland

Sabri Altindal hingegen will gar nicht hier bleiben. Er studiert Wirtschaftsingenieurwesen in Krefeld, hat schon ein Auslandspraktikum in der Türkei absolviert und steht kurz vor dem Bachelor-Abschluss. Den Master will er im Ausland machen und sich anschließend in Istanbul bewerben, vielleicht bei einer deutschen Firma. Der 27-jährige Student ist fest davon überzeugt, in der Türkei die besseren Karrierechancen zu bekommen. "Die Türkei hat ein sehr hohes Wirtschaftswachstum und ist für viele deutsche und europäische Unternehmen attraktiv." Mit seiner kulturellen und sprachlichen Kompetenz, könne er vor allem bei deutschen Firmen punkten, die Niederlassungen in der Türkei besitzen. "Ich war vor kurzem für fünf Monate bei Mercedes Benz Türk und ich sehe dort bessere Aufstiegschancen als in Deutschland", sagt Sabri Altindal.

Boomende Wirtschaft am Bosporus

Die beiden Studenten mit türkischer Zuwanderungsgeschichte stehen beispielhaft für einen aktuellen Trend: Qualifizierte Nachwuchskräfte türkischer Herkunft wandern vermehrt aus, viele von ihnen zieht es in die Türkei. Erste Ergebnisse eines noch laufenden Forschungsprojekts am Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) in Hamburg nennen als mögliche Gründe unvorteilhafte Berufsaussichten in Deutschland, erlebte Diskriminierung im Alltag, aber auch schlicht die boomende Wirtschaft am Bosporus, die für viele verlockend sei. Die Türkisch-Deutsche Industrie- und Handelskammer beobachtet ebenfalls einen Abwanderungstrend: "Als Land war Deutschland immer attraktiv, aber das ändert sich gerade ein bisschen", sagt Faize Berger, die dort im Vorstand tätig ist. Das habe auch mit der wirtschaftlichen Entwicklung in der Türkei zu tun. "Sechs bis sieben Prozent Wachstumsrate, das macht das Land schon attraktiv. Junge Menschen sehen in der Türkei Alternativen, weil sie dort ja familiäre Wurzeln haben." Durch neue Informations- und Kommunikationstechnologien seien zudem neue Geschäftsmöglichkeiten entstanden,  die der Internationalisierung eine andere Richtung geben.

Blick auf die Bosporusbrücke in Istanbul (Foto:dpa)
Viele deutschtürkische Jugendliche sehen bessere Berufschancen in ihrer Heimat, etwa in IstanbulBild: picture-alliance/dpa

Fachkräftemangel spitzt sich zu

Die Auswanderung qualifizierter Nachwuchskräfte ist mit Blick auf den Fachkräftemangel in Deutschland bedenklich. Deutsche Unternehmen schlagen Alarm. Einer aktuellen Umfrage zufolge sehen 34 Prozent der deutschen Firmen den Fachkräftemangel als bedrohliches Geschäftsrisiko – und das bereits in den nächsten Monaten, sagt der Geschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Martin Wansleben. Besonders betroffen seien unter anderem das Baugewerbe, die IT-Branche sowie das Gesundheitswesen. Durch Zuwanderung allein wird Deutschland den Bedarf an Fachkräften und Hochqualifizierten derzeit nicht decken können. Allzu viel Geduld für langwierige Bewerbungsphasen aber haben Hochschulabsolventen wie Tugba Akyazi und Sabri Altindal nicht: "Ich würde gerne hier bleiben. Aber ich gebe Deutschland drei bis vier Monate Zeit. Wenn ich dann nichts finde, muss ich meine Sachen packen und meine Chancen woanders suchen", sagt Tugba Akyazi. Sie habe sehr viel investiert, um dahin zu kommen, wo sie jetzt stehe. Da wolle sie keine unnötige Zeit vergeuden. Bei Sabri Altindal stehen die verlockenden Aufstiegschancen am Bosporus im Vordergrund: "Wir leben in einer globalen Welt. Das heißt, dass man auch jenseits der Grenzen  arbeiten und leben kann", sagt der 27-Jährige.

Mangelnde Kultursensibilität

Den Trend zur Abwanderung sehen Politiker auch noch aus einem anderen Grund mit Sorge. Erfolgreiche Menschen mit Zuwanderungsgeschichte seien wichtige Vorbilder, meint die Grünen-Politikerin Özcan Mutlu. Sie zeigten, dass es möglich sei, mit dem nötigen Engagement etwas zu erreichen. Was aber muss sich in Deutschland verändern, um jungen und hochqualifizierten Menschen mit Migrationshintergrund eine bessere berufliche Perspektive zu bieten? "Ich denke, da sollten wir uns einfach kultursensibel verhalten. Es geht nicht um Nationalitäten, ethnische Zugehörigkeit oder kulturellen Hintergrund. Es geht darum, wie wir miteinander umgehen", sagt Faize Berger. Um Vielfalt als Bereicherung erleben und als Potenzial nutzen zu können, müsse man in der Lage sein, das zu verstehen – und auch willig sein, damit umzugehen.

Faize Berger von der Türkisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer (Foto:DW/Ulrike Hummel)
Faize Berger von der Türkisch-Deutschen Industrie- und HandelskammerBild: TD-IHK

Autorin: Ulrike Hummel
Redaktion: Thomas Latschan