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Aufbruchstimmung in Bulgarien

20. Januar 2005

Die Transformationsleistungen der letzten Jahre scheinen beachtlich: die Wirtschaft wächst, der NATO-Beitritt ist erfolgreich absolviert. Doch 2005 ist ein wirklich entscheidendes Jahr für Bulgarien.

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In Bulgarien (hier: Haupstadt Sofia) bewegt sich einigesBild: dpa

Die Unterzeichnung des EU-Beitrittsvertrags und die Parlamentswahl sind zwei Ereignisse in der ersten Jahreshälfte, die für die meisten Bulgaren als entscheidend für die Zukunft des Landes gelten. Ist die Transformationsphase in Bulgarien zu Ende und was kommt auf die bulgarische Gesellschaft zu? Das sind zurzeit die meist gestellten Fragen in der öffentlichen Diskussion, die im direkten Zusammenhang mit der Wahl und dem für 2007 anvisierten EU-Beitritt stehen.

„Sichtbare Verbesserung des Lebensstandards“

Für aufgeregte Debatten sorgte neulich ein Buch zu diesem Thema mit der kühnen Behauptung, die wirtschaftliche Umverteilung in Bulgarien sei abgeschlossen, die neuen Eliten hätten ihre Positionen konsolidiert und das Land befinde sich eindeutig im Aufwärtstrend. Einer der beiden Autoren, der Soziologe und Meinungsforscher, Andrei Raitschev, meint zur bevorstehenden Parlamentswahl: „Zum ersten Mal in Bulgarien wird das keine negative Abstimmung sein, sondern eine positive. Das heißt, die Menschen werden nicht eine Regierung abwählen, sondern eine neue für die Zukunft wählen. Das ist beispiellos in den letzten 15 Jahren."

Raitschev, der mit seinem Ko-Autoren Kantscho Stoitschev die Balkan-Vertretung des US-amerikanischen Gallup-Institutes leitet, stellt eine sichtbare Verbesserung des Lebensstandards in Bulgarien fest. Sie sei die wichtigste Voraussetzung für die Stabilisierung der Gesellschaft und auf die erfolgreiche Regierungszeit vom Ministerpräsidenten Simeon Sakskoburggotski zurückzuführen, so Raitschev.

Im Vorfeld der Parlamentswahlen

Der ehemalige bulgarische König Simeon von Sachsen-Coburg und Gotha, der unter seinem bürgerlichen Namen seit Juni 2001 Bulgarien regiert, ist auch die unbekannte Größe bei der kommenden Wahl. Seine Mitte-Rechts-Partei, die "Nationale Bewegung Simeon der Zweite" (NBSZ) bleibt zwar in den Umfragen weit hinter der ex-kommunistischen Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) zurück, Sakskoburggotski aber ist nach wie vor der beliebteste Anwärter auf den Premierposten. Die entscheidende Frage sei, ob die heutige Koalition der NBSZ mit der kleinen Partei der bulgarischen Türken, der Bewegung für Rechte und Freiheit (BRF), doch den positiven Trend wird ausnutzen können, so Raitschev: „Sollte die Parlamentswahl heute stattfinden, so würde die regierende Koalition etwa 12 + 6 Prozent und die BSP 23 Prozent erhalten. Wir haben es also mit einem Abstand von ungefähr fünf Prozent zu tun."

Die Union demokratischer Kräfte, die bis vor ein paar Jahren größte Mitte-Rechts-Koalition des ehemaligen Ministerpräsidenten Ivan Kostov, ist mittlerweile auseinander gefallen und die drei Flügel sind untereinander hoffnungslos zerstritten. Sollten sie allerdings doch gemeinsam in die Wahl gehen, so würden sie auf die beachtlichen 15 Prozent kommen und die Voraussetzung für eine Regierung rechts von der Mitte schaffen, meint Raitschev.

Wirtschaftslobby plant eigene Partei

Eine unbekannte Größe bei der Wahl könnte die bulgarische Geschäftswelt werden, das im Stillen an einer neuen Partei bastelt. Einige der reichsten Geschäftsleute im Lande, die zum Teil über die Schattenwirtschaft auf das große Geld gekommen sind, möchten offenbar ihre dunklen Ecken verlassen und sich politisch für die Interessen der heimischen Wirtschaft einsetzen. Vor allem in der Provinz könne man mit einem riesigen Stimmenanteil rechnen, meint ein Insider, der aus seinen künftigen Regierungsambitionen keinen Hehl macht. Die machtinteressierten Geschäftsleute wüssten es, bei der Wahl ganze Landbezirke für ihre Sache einzuspannen, um eine günstige Gesetzgebung für das bulgarische Business zu schaffen. Hinter dieser Vermutung steckt die Überzeugung, dass die in den letzten Jahren massiven Auslandsinvestitionen und die Einführung der EU-Standards eine Gefahr für die autarken Wirtschaftsmächte in Bulgarien darstellen.

Hoffnungen und Ängste vor EU-Beitritt

Am 26. April wird Bulgarien den EU-Beitrittsvertrag unterzeichnen, um voraussichtlich Anfang 2007 der Union beizutreten. Mit dem Beitritt verbinden die meisten Bulgaren ihre Hoffnungen auf Wohlstand und Stabilität, aber immer öfter auch die Ängste vor dem starken Konkurrenzkampf. Nicht nur die erwähnten Geschäftsleute, auch der Durchschnittsbulgare macht sich mittlerweile Sorgen über die Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Wirtschaft, über den Verlust an Souveränität und Mitbestimmungsrecht. Ein typisches Beispiel ist die unter EU-Druck getroffene Entscheidung zur Stilllegung von vier AKW-Reaktoren in Koslodui - eine Entscheidung, die von der Bevölkerung nicht mitgetragen wird.

Eine immer wieder ins Gespräch gebrachte Volksabstimmung zum EU-Beitritt würde allerdings zu keiner bösen Überraschung führen. Nach wie vor sind über 70 Prozent der bulgarischen Wähler für die europäische Zukunft des Landes, obwohl sie inzwischen realistischer in diese Zukunft blicken. Vor der Parlamentswahl sind auch alle größeren politischen Parteien auf das Thema EU ausgerichtet, nicht zuletzt deswegen, weil die Politiker diese Wahl als entscheidungsträchtig für künftige Posten und Abgeordnetensitze innerhalb der EU betrachten.

Zu den außenpolitischen Schwerpunkten in diesem Jahr meint Stefan Tafrov, bulgarischer UN-Botschafter: „Das Wichtigste ist zweifellos die Unterzeichnung des EU-Beitrittsvertrags im April. Was mein Tätigkeitsfeld, die UNO, betrifft, ist für Bulgarien die Reform des Sicherheitsrates sehr wichtig. Bulgarien unterstützt voll die Idee der Erweiterung des Sicherheitsrates um einige ständige und nichtständige Neusitze."

Es geht bergauf in Bulgarien, das EU-Durchschnittsniveau aber ist noch in weiter Ferne. Das bekommt jeder Auslandsbesucher der Hauptstadt Sofia in diesen Tagen deutlich zu spüren. Die Stadt erstickt buchstäblich in Müll, denn seit Anfang Januar ist die Müllabfuhr wegen einer Protestaktion lahm gelegt. Die Flaggen der EU und der NATO, die über den Müllhaufen im Stadtzentrum trostlos im Wind flattern, sind ein aussagekräftiges Abbild der aktuellen Lage im Lande.

Alexander Andreev, Sofia,
DW-RADIO/Bulgarisch, 18.1.2005