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Aufgelesen

14. September 2011

Wir machen weiter mit unserer literarischen Krümel-Kolumne, diesmal ein Spezial zum Thema "Neuanfang". Wir gründen einen Lesekreis, stürzen ein Regime und schreiben Geschichte um: Jesus hatte einen Bruder.

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Bücherstapel (© picture-alliance/dpa)
Bild: picture alliance/dpa

Ein Volk stürzt seinen Machthaber, die Diktatur wird zur Demokratie - mehr Neuanfang geht kaum. In Tunesien hat der "arabische Frühling" in diesem Jahr angefangen zu blühen, und Lina Ben Mhenni war von Anfang an dabei.

Streitbare Thesen zur Macht der Blogger

Lina Ben Mhenni (Foto: DW/Kanetzki)
Lina Ben MhenniBild: DW/K.Danetzki

"Ich bin Bloggerin und werde es bleiben. (...) Ich beobachte, was in Tunesien passiert, insbesondere seit dem 14. Januar 2011, jenem Tag, an dem wir uns von der Last, dem Alptraum namens ZABA befreit haben – gemeint ist Zine al-Abidine Ben Ali, seit dem 7. November 1987 tunesischer Präsident mit dem Gebaren eines Diktators. Jetzt hat er seinen Platz zwar geräumt, aber er hat vieles hinterlassen, Gefährten, Gewohnheiten, eine Menge Gewalt."

So beginnt Linas Streitschrift "Vernetzt Euch!". Der Ullstein Verlag hat sie ins Programm genommen, nachdem das Essay des ehemaligen französischen Widerstandskämpfers Stéphane Hessel 2010 so gut ankam: "Empört Euch!" hatte er gerufen und den Gesamtzustand der Welt kritisiert.

Cover des Buchs "Vernetzt Euch!" von Lina Ben Mhenni (Foto: Ullstein Verlag)
Bild: Ullstein

Bloggerin Lina konzentriert sich auf die politischen Umwälzungen in Tunesien und preist die Macht der sozialen Netzwerke. In ihren 46 Seiten steckt einiges, über das man streiten kann. Lina erlaubt hastige Einblicke in ihre Welt, reiht Erlebnisse und vor allem eben Meinungen an einander. Dynamisch, aber manchmal auch naiv. Insgesamt aber ein lesenswerter Streithappen. Und vielleicht ja der ideale Einstieg für einen Lesekreis. Thomas Böhm hat nämlich einen Ratgeber zum Gründen und Führen eines solchen Lesekreises herausgegeben.

Lesekreis für die Hirnzellen

Er hat lange das Literaturhaus in Köln und selbst einen Lesekreis geleitet. Sich regelmäßig treffen um über Literatur zu diskutieren - das wirkt einerseits erstmal so altmodisch wie Briefe per Hand schreiben. Andererseits gibt es diese Lesezirkel inzwischen auch vermehrt im Internet. Und wer sich für die klassische Variante mit physischer Anwesenheit entscheidet, hat laut Thomas Böhm sogar mehr davon, als den schieren Spaß am Lesen und Diskutieren

Cover des Buchs "Das Lesekreisbuch" von Thomas Böhm
Bild: Berlin Verlag

"Dadurch, dass Literatur gelesen und in einer Gruppensituation besprochen wird, erweitern Lesekreise die sprachlichen Fähigkeiten ihrer Mitglieder, die sozialen Erfahrungen und Fähigkeiten (...), die verschiedenen Formen des Wissens: das analytische Wissen, (...), das kreative (...), das Prozesswissen (...)."

Sein Ratgeber ist sehr detailliert, manchmal vielleicht zu sehr. Wenn er zum Beispiel ausführlich diskutiert ob und was man während eines Lesekreistreffens essen oder trinken sollte. Oder worauf man achten soll, wenn man ein Buch bestellt. Letztlich überzeugt Thomas Böhm aber, dass die Gründung eines Lesekreises ein bereicherndes Hobby sein kann – eines mit langer Tradition, das so vielfältig und unterschiedlich sein kann wie die Menschen, die daran teilnehmen und die Literatur, die sie lesen.

Zwei Brüder und ein Halleluja

Kontrovers diskutieren könnte man in solch einem Lesekreis unter anderem die Geschichte der Brüder Jesus und Christus. Sie wird in "Der gute Herr Jesus und der Schurke Christus" von Philip Pullman erzählt. Der britische Autor hat damit eine Alternative zum Gründungsmythos des Christentums geschrieben und Schauspieler Hanns Zischler hat sie gekonnt vertont.

CD-Cover des Hörbuchs "Der gute Herr Jesus und der Schurke Christus" von Philip Pullman (Foto: Der Hörverlag)
Bild: der Hörverlag

"Josef breitete Decken über das Stroh, damit Maria sich ausruhen konnte, dann rannte er los und suchte eine Hebamme. Als er zurückkam, war das Kind schon da, doch die Hebamme sagte: es kommt noch eins! Sie bekommt Zwillinge! Und tatsächlich, bald darauf wurde ein zweites Kind geboren. Es waren zwei Jungen, der erste war kräftig und gesund, doch der zweite war klein, schwach und kränklich."

Der Kräftige wird Jesus genannt, der Kränkelnde Christus. Jesus ist voller Tatendrang und Visionen, charismatisch und sympathisch, Christus dagegen das gerissene, schlaue, liebe Kind. Sie verstehen sich nicht besonders gut, arbeiten aber zusammen an der Verbreitung und Organisation des Christentums. Diese Alternativversion des Evangeliums hat nicht plötzlich ein Happy End, aber die Geschichte wirkt stellenweise logischer und überzeugender als das Original. Ein scharfsinniger Neuanfang. Halleluja.

Autorin: Marlis Schaum
Redaktion: Gabriela Schaaf

Lina Ben Mhenni: "Vernetzt Euch!", Ullstein Verlag, 46 Seiten, ISBN 978-3-550-08893-3, 3,99 Euro.

Philip Pullman: "Der gute Herr Jesus und der Schurke Christus", Regie: Hans Peter Krüger, Sprecher: Hanns Zischler, Der Hörverlag, 4 CDs, Gesamtlaufzeit ca. 268 Minuten, ISBN 978-3-86717-691-0, 19,95 Euro.

Thomas Böhm: "Das Lesekreis-Buch", Bloomsbury Verlag, 147 Seiten, ISBN 978-3-8333-0773-7, 7,95 Euro.