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Aufstand der "Lgotniki"

Stephan Hille, Moskau18. Januar 2005

Es sind die ersten Proteste in Wladimir Putins Amtszeit als Präsident: Seit Tagen demonstrieren tausende Rentner überall im Land gegen die Streichung von Sondervergünstigungen - wie zum Beispiel beim Nahverkehr.

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Stephan Hille

Zur bislang größten Demonstration war es am Wochenende in Putins Heimatstadt St. Petersburg gekommen: Mindestens 5000 Rentner hatten den Newskij-Prospekt, die zentrale Prachtmeile der nördlichen Metropole, blockiert. Die wütenden Rentner hatten sogar - in Anlehnung an die Farbe der ukrainischen Demokratiebewegung - einige orangefarbene Zelte errichtet.

Kompliziertes Leistungssytem

Die Wut der Pensionäre richtet sich gegen ein Gesetz, das die Duma vor einem halben Jahr verabschiedet hatte und das nun in Kraft getreten ist: Seit Anfang des Jahres sind die wichtigsten sozialen Vergünstigungen, die noch aus Sowjetzeiten stammen, abgeschafft. Zu dem komplizierten System der Sozialleistungen, im Russischen "Lgoty" genannt, zählten der kostenlose Transport im öffentlichen Nahverkehr und in Regionalzügen, eine verringerte Grundgebühr für das Telefon sowie unterschiedliche Vergünstigungen bei den Kommunalabgaben und eine zumindest theoretisch kostenlose Versorgung mit den wichtigsten Medikamenten.

Bislang hatten in Russland rund 32 Millionen Menschen Anspruch auf diese Vergünstigungen oder Beihilfen. Zu diesen "Lgotniki", den Anspruchsberechtigten, zählen vor allem Rentner, aber auch Soldaten, Polizisten, Feuerwehrleute, Kriegsveteranen, Behinderte und noch einige andere Gruppen.

Belastung für den Staat

Anstelle der Sozialleistungen sollen diese Berechtigten je nach ihren Ansprüchen nun pro Monat einen finanziellen Ausgleich erhalten. Zumindest auf dem Papier ist die vor einem halben Jahr gegen den Protest der Bevölkerung durchgesetzte Reform sinnvoll: Die vielen noch aus sowjetischer Zeit stammenden Privilegien belasten die öffentlichen oder halbstaatlichen Dienstleister wie Nahverkehr, Kommunalverwaltungen oder Krankenhäuser und verhindern dringend notwendige Modernisierungen oder Investitionen. Außerdem wurden bislang die "Lgoty" nach dem Gießkannenprinzip verteilt: Allerdings hatte eine Rentnerin in einem sibirischen Dorf ohne Telefonanschlüsse nichts davon, wenn ihr bislang nach dem Gesetz eine geringere Grundgebühr für den nicht vorhandenen Telefonanschluss zustand. Die finanziellen Ausgleichszahlungen haben den Vorteil, dass die Berechtigten dieses Geld nach eigenem Gutdünken einsetzen können.

Mit heißer Nadel gestrickt

In der Praxis zeigt sich nun, dass viele Befürchtungen der Bevölkerung eingetroffen sind. So haben bislang nur die Wenigsten die ihnen zustehende finanzielle Kompensation erhalten. Die Entschädigungen müssen zum größten Teil aus den regionalen Budgettöpfen finanziert werden, dazu sind jedoch viele der ärmeren Regionen finanziell nicht in der Lage. Gleichzeitig kann sich der Finanzminister allein für das vergangene Jahr über einen traumhaften Haushaltsüberschuss von rund 18 Milliarden Euro freuen.

Unter dem Druck der Straße hat die Regierung nun beschlossen, die Renten um 200 Rubel (umgerechnet 5,50 Euro) statt nur um 100 Rubel anzuheben. Außerdem sollen verbilligte Monatskarten für den Nahverkehr eingeführt werden. Doch dies dürfte die aufgebrachten Babuschki kaum beruhigen. Ohnehin werden noch mehr Demonstrationen gegen Ende des Monats erwartet, denn dann werden viele "Lgotniki" erstmals Rechnungen für die Kommunalabgaben in ihren Briefkästen finden. Das offenbar mit "heißer Nadel" im vergangenen Sommer verabschiedete Gesetz könnte so für Regierung und für Präsident Putin noch zu einem "heißen Eisen" werden.