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Kritische Analyse

22. Juli 2009

Der Generalinspekteur der Bundeswehr hat es so auf den Punkt gebracht: "Der Raum Kundus hat sich negativ entwickelt. Da braucht man nicht drum herum zu reden." Aber das reicht nicht aus, um zu erklären, was passiert.

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Deutsche ISAF Soldaten im Norden Afghanistans mit Waffen vor einem Panzer (Foto: AP)
In der OffensiveBild: AP

Nach Angaben des Bundesverteidigungsministeriums beteiligen sich zurzeit rund 300 deutsche Soldaten und rund 900 afghanische Sicherheitskräfte an einer Offensive gegen die Taliban im Raum Kundus. Die Einheiten der Bundeswehr setzen dabei zum ersten Mal auch schwere Waffen ein, vor allem Schützenpanzer vom Typ "Marder".

Deutscher Soldat auf dem Dach des Schützenpanzers Marder (Foto: dpa)
"Marder" im Afghanistan-EinsatzBild: picture-alliance/dpa

Dieser "Marder" ist eine sehr bewegliche Waffe: 600 PS stark und bis zu 65 Kilometer pro Stunde schnell. Der Panzer ist unter anderem mit einer Bordkanone ausgestattet. Wenn so eine schwere Waffe in Afghanistan zum Einsatz kommt, dann geht es darum, einen Gegner im Gefecht zu bekämpfen.

"Schutztruppe" wird Kampftruppe

Die Bundeswehr ist derzeit mit insgesamt rund 3500 Soldaten in Afghanistan im Einsatz. Damit gehört Deutschland zu den größten Truppenstellern der Internationalen Schutztruppe ISAF, die im Augenblick insgesamt rund 61.000 Mann stark ist. ISAF bedeutet "International Security and Assistance Force". Die Truppe soll also dem Namen nach "schützen" und "helfen". Sie steht unter NATO-Kommando und ist mit einem Mandat der Vereinten Nationen ausgestattet.

ISAF-Emblem auf dem Uniform-Ärmel eines deutschen Soldaten in Afghanistan (Foto: AP)
ISAF = International Security and Assistance ForceBild: AP

Aber die internationale Schutztruppe für Afghanistan, die unmittelbar nach dem Sturz der Taliban im November 2001 nur 5000 Mann stark und auf die Hauptstadt Kabul beschränkt war, hat sich längst in eine kämpfende Truppe verwandelt. Diese Truppe bekämpft einen Aufstand, der immer mehr an Intensität gewinnt und in immer mehr Distrikten des Landes für Gewalt sorgt.

Sichtbare und unsichtbare Fronten

Die ISAF - und damit auch die Bundeswehr - sind in einem Guerilla-Krieg gefangen, in dem es mehrere Gegner gibt, die sich in schnell wechselnden Allianzen mal verbünden und mal auch gegenseitig bekämpfen. Es gibt viele Fronten. Es gibt noch mehr unsichtbare Fronten. Der Feind hat viele Gesichter.

Afghanischer Taliban mit Kalaschnikow auf der Schulter (Foto: dpa)
Taliban-Kämpfer in AfghanistanBild: picture-alliance/dpa

Das Wort "Taliban" suggeriert eine homogene Bewegung, die es so nicht gibt. Die Taliban-Bewegungen in Afghanistan und Pakistan bestehen aus vielen Gruppierungen, die mal stabile und mal lose Bündnisse schmieden, was den Umgang mit ihnen so schwer macht.

Die Ausgangslage im Norden

Nachdem die grundsätzliche Entscheidung gefallen war, die Truppen der ISAF im ganzen Land zu stationieren, übernahm die Bundeswehr im Jahr 2006 das regionale Oberkommando im Norden des Landes. Das bedeutet, dass fast alle der zurzeit rund 3500 Bundeswehrsoldaten in Afghanistan in den neun nördlichen Provinzen stationiert sind.

Karte mit Übersicht der fünf Kommandos der Afghanistan Schutztruppe ISAF (Foto: DW Grafik)
Regionalkommandos der ISAF

Der Norden Afghanistans galt lange als relativ ruhig und sicher. Tatsächlich war die Nordhälfte im direkten Vergleich mit Unruhe-Provinzen wie Kandahar oder Helmand im Süden oder Khost im Osten ein Landesteil, in dem die ISAF-Soldaten am Anfang nur selten zu ihren Waffen greifen mussten. Warnungen, dass diese Ruhe trügerisch sei, wurden von den politischen Entscheidungsträgern in Berlin gerne überhört oder heruntergespielt.

Taliban und El Kaida im Norden

Aber spätestens seit dem vergangenen Jahr ist klar, dass die Aufstandsbewegung der radikal-islamischen Taliban und ihrer Verbündeten vom El-Kaida-Netzwerk auch den Norden Afghanistans erreicht hat. Lokale Kriegsfürsten, Drogenbarone und verfeindete Clanchefs heizen die Gewalt zusätzlich an.

Franz-Josef Jung im Portrait (Foto: AP)
Bundesverteidigungsminister Franz Josef JungBild: AP

Im Herbst des vergangenen Jahres hat Verteidigungsminister Franz Josef Jung zum ersten Mal von "gefallenen Soldaten" gesprochen. Der Minister will nach eigenen Angaben nicht von Krieg sprechen, weil er die Kämpfer der Taliban "nicht zu Kombattanten" machen will. Man kämpfe "gegen Verbrecher und Terroristen", deshalb befinde sich die Bundeswehr in Afghanistan nicht im Krieg.

Jenseits der Semantik

Ob man es "Krieg" nennt oder nicht - die laufende Offensive mit schweren Waffen zeigt der deutschen Öffentlichkeit die Realität: Soldaten der Bundeswehr kämpfen in Afghanistan und riskieren dort ihr Leben. Sie sind nicht nur humanitäre Helfer in Uniform. Die Soldaten schießen und gehen in die Offensive. Sie agieren aktiv und nutzen ihre schweren Waffen wie den Schützenpanzer "Marder" mit seiner Bordkanone. Wenn die eigene Feuerkraft am Boden nicht reicht, funken sie die Verbündeten an und bitten um Luftunterstützung.

Neue Taktik des Gegners

Früher waren selbstgebastelte Raketen, Sprengfallen am Straßenrand und Selbstmordattentäter das Bedrohungsszenario für die Bundeswehr im Norden. Aber der Feind hat schon seit längerem seine Taktik geändert. Größere Gruppen von bewaffneten Kämpfern locken deutsche Einheiten inzwischen immer öfter gezielt in Hinterhalte, um sie dann in Feuer-Gefechte zu verwickeln.

Ein deutscher Soldat ohne Helm, aber mit Gewehr im Anschlag (Foto: AP)
Soldat im (Kampf-)EinsatzBild: AP

Die Bundeswehr hat darauf reagiert. Sie hat ihr Personal im Norden verstärkt. Sie hat schweres Gerät in die besonders unruhige Provinz Kundus geschickt. Die Kommandeure schicken die Soldaten in die Offensive, anstatt nur wie bisher auf Beschuss zu reagieren.

Spiegelbild der afghanischen Realität

Die Entwicklung des Einsatzes der Bundeswehr spiegelt den labilen Zustand des gesamten Landes wider. Taliban und El Kaida sind noch immer eine afghanische Realität. Je stärker die radikalen Islamisten im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet unter militärischen Druck geraten, desto stärker weichen sie mit ihren Aktionen in andere Landesteile aus.

Dass die Provinz Kundus dabei mehr und mehr in den Blickpunkt rückt, ist kein Zufall. Dort liegt der Distrikt Chardara, in dem überwiegend Paschtunen leben, aus denen sich die Taliban rekrutieren. Als die Taliban Afghanistan noch regierten, hatten sie in Chardara ihr Hauptquartier für die Provinz Kundus. Die Paschtunen stellen in der besonders heftig umkämpften südlichen Landeshälfte die Bevölkerungsmehrheit. Im Norden, wo vor allem Tadschiken und Usbeken leben, sind sie eine Minderheit.

zerstörtes Bundeswehrfahrzeug vom Typ dingo nach einem Anschlag in Chardara (Foto: dpa)
Anschlag auf Bundeswehr in ChardaraBild: picture-alliance/ dpa

Es ist auch kein Zufall, dass die Bundeswehr im Distrikt Chardara besonders oft unter Feuer gerät. Chardara ist für die Aufstandsbewegung von höchster strategischer und symbolischer Bedeutung. "Wer Chardara beherrscht, hat Kundus im Griff", hat ein Mitarbeiter des deutschen Wiederaufbauteams in Kundus schon Anfang März in einem Interview erklärt.

Ziele und Gegenziele

Die Bundeswehr will mit ihrer Beteiligung an der Militäroperation der afghanischen Sicherheitskräfte ein Zeichen setzen. Die deutschen Soldaten wollen das Gebiet wieder unter Kontrolle bekommen - rechtzeitig vor den afghanischen Präsidentschaftswahlen am 20. August. Die Taliban und ihre Verbündeten hingegen wollen die deutschen Truppen zum Rückzug zwingen. Sie wollen Afghanistan vor der Wahl weiter destabilisieren und suchen gleichzeitig neue Rückzugsräume jenseits des afghanisch-pakistanischen Grenzgebietes.

Die Aufständischen wissen außerdem um die Bundestagswahl am 27. September. Sie wissen, wie umstritten der Afghanistan-Einsatz in Deutschland ist. Wenn sie es schaffen, so ihr Kalkül, einen der größten Truppensteller der ISAF zu verunsichern, könnte das in den Reihen der NATO einen Domino-Effekt erzeugen.

Der Bundesverteidigungsminister geht davon aus, dass die die laufende Offensive etwa eine Woche dauern wird. Die Erfahrung aus anderen Landesteilen lehrt, dass die Schwierigkeit nicht darin liegt, unruhige Distrikte "zurückzuerobern", sondern sie zu halten.

Autorin: Sandra Petersmann

Redaktion: Kay-Alexander Scholz