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Aus der Traum von der 6,0

27. März 2004

Seit 1929 ist die 6,0 die Traumnote aller Eiskunstläufer, jetzt wird sie mit ziemlicher Sicherheit abgeschafft: Die älteste olympische Wintersportdisziplin steht vor dem radikalsten Systemwandel ihrer Geschichte.

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Hoffen auf ein neues Wertungssystem: Xue Shen und Hongbo ZhaoBild: AP


Zwölf Mal hatten die chinesischen Paarläufer Xue Shen und Hongbo Zhao eine 6,0 erhalten - doch schon vor ihrer Kür bei den Weltmeisterschaften in der Dortmunder Westfalenhalle stand fest: Für Gold reicht es nicht. Ihre Ausgangsposition auf Platz 4 vor der Kür war zu schlecht, mehr als der zweite Platz rein rechnerisch nicht drin.

Ottavio Cinquanta, Präsident des Weltverbandes International Skating Union (ISU), saß auf der VIP-Tribüne und lächelte diabolisch. Die Kürentscheidung passte perfekt ins taktische Kalkül des Italieners, der das 75 Jahre alte Wertungssystem lieber heute als morgen abschaffen will. "Vielleicht hätten wir mit dem neuen System gewonnen", klagte auch Xue Shen.

Das neue System soll gerechter sein

"Das neue System" wird von all jenen beschworen, die auf mehr Wertungsgerechtigkeit und Objektivität im Eiskunstlauf hoffen. Mangelnde Transparenz, fragwürdige Entscheidungen, Mauscheleien bis hin zu Bestechungsskandalen unter Preisrichtern bringen das Eiskunstlaufen immer wieder in Misskredit. Damit soll jetzt Schluss sein: Nach dem neuen System werden jeder Sprung, jede Pirouette und jeder Wurf separat bewertet und dann addiert. Es gibt keine Begrenzung nach oben, also auch keine Höchstnote von 6,0 Punkten.

WM Eiskunstlauf: Japanerin Shizuka Arakawa, Dortmund
Die Weltmeisterin 2004, Shizuka Arakawa aus JapanBild: AP

Die Basispunktzahl ist für jeden Sprung und jede Pirouette festgelegt, die Preisrichter bewerten auf einer Skala von minus drei bis plus drei, wie gut das jeweilige Element ausgeführt wurde. Statt einer pauschalen B-Note für die Präsentation werden Punkte für Eislauffertigkeiten, Schrittverbindungen, Darbietung, Choreographie und Interpretation vergeben. Rückstände sind immer, zumindest theoretisch, aufholbar. Derzeit dienten die Noten lediglich zur Einordnung der Läufer auf bestimmte Plätze.

Personal- und kostenintensiv

"Schrittfolgen und Pirouetten sind deutlich wichtiger geworden. Sich nur auf die Sprünge zu konzentrieren, ist der falsche Weg", sagt Reinhard Mirmseker, Präsident der Deutschen Eislauf-Union (DEU). Aber: "Wer dreimal auf die Schnauze fällt, dem ist natürlich mit keinem System geholfen." Bei der Nebelhorn-Trophy in Oberstdorf hatte das neue System im Oktober 2003 Weltpremiere.

"Es ist gerechter und fördert die Tendenzen zu sauberen Programmen", meinte der Düsseldorfer Preisrichter Ulf Denzer, der als erster deutscher Preisrichter in Oberstdorf einen Wettbewerbsteil nach dem Punktesystem bewertete. Problematisch ist jedoch der hohe technische und personelle Aufwand, der erhebliche Kosten verursacht. Es bleibt bei 14 Preisrichtern, doch hinzu kommen ein "Technical Spezialist", der die präsentierten Elemente benennt, und ein "Technical Controller", der die Wertigkeiten prüft. Die hochkomplizierte Software ist sehr teuer.

Eiskunstlauf Paar Dan Zhang, links, und Hao Zhang aus China Eiskunstlauf-WM Dortmund
Dan Zhang und Hao Zhang aus ChinaBild: AP

Russen und Amerikaner mit Einwänden

Trotz aller Einwände ist ISU-Chef Cinquanta von den Vorteilen der Neuerung überzeugt. "Die Urteile der Preisrichter werden nachvollziehbarer und transparenter", glaubt er. Der ISU-Kongress im Juni 2004 im niederländischen Scheveningen soll die Reform auf den Weg bringen. Aber die Zweidrittel-Mehrheit ist alles andere als sicher.

Mindestens 37 von 55 Mitgliedsländern müssen zustimmen. Widerstand regt sich unter anderem aus den Top-Nationen Russland und USA. Die Russen fürchten den Verlust der 6,0 als Note mit hohem Wiedererkennungswert für die Sportart, die US-Amerikaner bemängeln, dass die Benotungen - wie auch beim herkömmlichen System – nicht einzelnen Juroren zuzuordnen sind.

Das chinesische Eiskunstlaufpaar gewinnt die Weltmeisterschaft in den USA
Xue Shen und Hongbo Zhao aus China (2003)Bild: AP

Läufer mit gemischten Gefühlen

Die große Mehrheit der Topathleten begrüßt den Vorwärtsdrang ihres smarten Präsidenten. "Ich hänge nicht an der 6,0, ich denke, das neue System ist zeitgemäßer und gerechter", sagt Vize-Weltmeisterin Sasha Cohen aus den USA. Vorbehalte der Aktiven kommen in erster Linie von den Eistänzern. Bekanntlich wird bei ihnen nicht gesprungen, es können also auch keine Sprünge in irgendeine Bewertung eingehen.

"Bei uns wird immer viel Subjektivität im Spiel bleiben", meint René Lohse, der bei der WM in Dortmund mit seiner Partnerin Kati Winkler die erste Eistanz-Medaille seit 30 Jahren für Deutschland holte. Nach dem neuen System können die Eiskunstläufer sogar "Weltrekorde nach Punkten" aufstellen. Aber eine Rekordzahl wird wohl unangetastet bleiben: Die britischen Eistänzer Jayne Torvill und Christopher Dean erhielten die Traumnote 6,0 in insgesamt 136 Mal. (arn)

WM Eiskunstlauf: Kati Winkler und Rene Lohse, Dortmund Miniquiz März 2004
Kati Winkler und Rene LohseBild: AP