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Ausnahmezustand oder Normalität?

20. März 2004

Die Achillesferse von George W. Bush im amerikanischen Wahlkampf sind Arbeitsmarkt, Haushaltsdefizit und die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme. Eine Analyse von Dieter Dettke.

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George Bush Wahlkampf im Fernsehen
George Bush im Wahlkampfspot fürs FernsehenBild: AP

Ginge es in den amerikanischen Präsidentschaftswahlen am 2. November dieses Jahres vor allem um die innere Sicherheit, den Kampf gegen den internationalen Terrorismus und Amerikas Führungsanspruch in der Welt, stünde es um die Chancen von John Kerry, einen Führungswechsel im Weißen Haus zu erzwingen, nicht so gut. George W. Bush hat hier als Amtsinhaber einen natürlichen Vorsprung, wird ihn unter allen Umständen zu halten versuchen und dementsprechend ein Votum für John Kerry als Gefahr für die Sicherheit Amerikas an die Wand malen.

Offene Fragen

Die Frage ist jedoch, ob sich vor dem Hintergrund eines offenbar lang anhaltenden Guerilla-Krieges im Irak und zunehmender Sorgen um Wirtschaft, Finanzen und Arbeitsplätze, einschließlich der Zukunft der amerikanischen sozialen Sicherheitssysteme, der seit dem 11. September anhaltende politische Ausnahmezustand in Amerika bis zum Wahltag ausdehnen lässt. Wie lange wird die öffentliche Meinung Amerikas noch ein militärisches Engagement stützen, das sich, gemessen an den eigenen Verlusten an Menschenleben, kostspieliger erweist als der Krieg selbst?

Auch nach dem 30. Juni, wenn der Irak seine Souveränität zurück erhält, wird die amerikanische Verantwortung für die Sicherheit im Irak ja nicht beendet sein. Im Gegenteil: Die Lage könnte sich sowohl politisch und militärisch verschärfen, als auch rechtlich komplizierter werden. So sehr die amerikanische öffentliche Meinung in der Vergangenheit das Vorgehen der Bush-Administration im Irak stützte, zur Zeit bröckelt die Zustimmung immer mehr ab. Nur 47 Prozent der amerikanischen Bevölkerung sind bereit, der Irak-Politik von Präsident Bush zuzustimmen, während 49 Prozent sich gegen sie aussprechen. Es ist durchaus möglich, dass die Bush-Administration unter diesen Bedingungen von der wirtschaftlichen und sozialen Realität des Landes eingeholt wird.

Kerry steht für Normalität

John Kerry im Vietnamkrieg
Rückblick: John Kerry im VietnamkriegBild: AP

John Kerry, der jetzt nach der primary in Illinois vom vergangenen Dienstag (16. März 2004) die magische Schwelle von 2161 Delegiertenstimmen überschritten und damit die absolute Mehrheit der stimmberechtigten Delegierten für die Wahl zum Kandidaten der Demokratischen Partei hinter sich hat, wird alles versuchen, um in der kommenden Wahlkampfauseinandersetzung die Rückkehr Amerikas zur Normalität einzufordern. Er kann sich dabei auf Daten stützen, die George W. Bush Sorgen um die Wiederwahl machen müssen: 54 Prozent der amerikanischen Bevölkerung sind der Auffassung, dass Amerika sich als Nation in die falsche Richtung entwickelt, die politischen und wirtschaftlichen Prioritäten falsch gesetzt sind und Grund besteht, die Zukunft von Medicare als bedroht anzusehen. Nur 30 Prozent der Amerikaner erwarten, dass die wirtschaftliche Lage unter Führung von Präsident Bush besser wird, und 23 Prozent nehmen sogar an, sie werde schlechter.

John Kerry schneidet hier in den Umfragen besser ab als der Amtsinhaber im Weißen Haus. Bei der Frage, ob George W. Bush oder John Kerry eher für soziale Sicherheit und soziale Leistungen eintreten wird, liegt John Kerry mit 63 Prozent vor George W. Bush mit 47 Prozent. 57 Prozent der Amerikaner fühlen sich unsicher, ob Präsident George W. Bush die richtigen wirtschaftspolitischen Entscheidungen trifft. Diese Zahlen müssen für das Weiße Haus alarmierend sein, denn eine alte Faustregel der amerikanischen Politik besagt, dass das Wahlverhalten zu zwei Dritteln ökonomisch bestimmt ist und nur zu einem Drittel von anderen Faktoren abhängt.

Bushs Handicap

Tatsache ist, dass seit dem Amtsantritt von Präsident Bush mindestens 2,3 Millionen Jobs verloren gegangen sind. Von dem Stellenabbau besonders hart getroffen ist der Industriesektor, wo zwischen Juni 2000 und Dezember 2003 die Beschäftigung um 16 Prozent gesunken ist. Grund für diese Entwicklung ist neben dem hohen Produktivitätswachstum im Industriesektor und einer gestiegenen Nachfrage nach Dienstleistungen vor allem die Verlagerung von Produktion ins Ausland. Dabei sind es nicht mehr nur multinationale Unternehmen, die diesen Weg gehen, sondern auch kleine Unternehmen, die ihre Produktion ins Ausland verlagern, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

Für die Bush-Administration kommt die Auseinandersetzung über Outsourcing in einem Wahljahr denkbar ungelegen, denn ein überproportionaler Anteil der verlorenen Arbeitsplätze ist in den sog. „swing states“ zu finden. Seit dem Amtsantritt von George W. Bush sind z.B. in Pennsylvania 84.000 Arbeitsplätze verloren gegangen. In Ohio, ein Staat in dem George W. Bush im Jahr 2000 eine knappe Mehrheit erzielte, sind 265.000 Arbeitsplätze verloren gegangen. John Kerry macht sich hier zu Recht Hoffnungen, die Mehrheitsverhältnisse umkehren zu können. Ebenso bemüht sich Bush um die Staaten Michigan, Wisconsin und Iowa. Wie auch Pennsylvania wurden diese drei Staaten im letzten Wahlkampf – wenn auch relativ knapp - von Al Gore gewonnen und alle vier haben seit dem Amtsantritt der Bush-Administration einen hohen Verlust an Arbeitsplätzen hinnehmen müssen.

Perspektiven

Für Unruhe in der Wählerschaft, vor allem bei vielen älteren Menschen, sorgen die neuen Daten über die Zukunft der Alterssicherung. Bisher nahm man an, dass Social Security auf der Grundlage der jetzigen Finanzierung und des bestehenden Leistungsniveaus noch bis zum Jahre 2026 solvent bleiben wird. Der Zeitpunkt der Insolvenz tritt, wie jetzt bekannt wird, schon sehr viel früher ein und erfordert politisches Handeln: nämlich entweder die Erhöhung der Beiträge oder die Leistungsverminderung oder eine Kombination von beiden Korrekturmaßnahmen. Aber in einem Wahljahr wäre das politischer Zündstoff.

Das weiße Haus
Bild: AP

Entscheidet sich die amerikanische Wählerschaft für die Rückkehr zur Normalität, hat John Kerry die besseren Chancen, gewählt zu werden. Bleibt es bei der Akzeptanz des Ausnahmezustandes auch noch am Wahltag, wird George W. Bush wohl Präsident bleiben.

Dieter Dettke ist Leiter des Büros Washington der Friedrich-Ebert-Stiftung