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Avantgarde ohne Auftrag

15. Januar 2002

Berlin wird seinem Ruf als "Tor zum Osten" gerecht und präsentiert eine Momentaufnahme der "wilden" Kunst in Russland, die seit der Jahrtausendwende einen radikalen Weg eingeschlagen hat.

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Bulnygins ironischer Blick auf die Welt nach dem 11. SeptemberBild: AP

Es ist fast ein Markenzeichen: die Kunstavantgarde in Russland. Symbolismus, Konstruktivismus, Suprematismus, Proletkult ... schon immer schaute der Westen mit hohem Interesse gen Osten und war erstaunt ob der dortigen kreativen Energie.

Nun scheint es wieder soweit zu sein. Die Generation "P wie Pepsi" tritt ans Licht der Kunstöffentlichkeit. Es ist die Generation, die zum ersten Mal ohne Zensur und staatliche Gängelung aufgewachsen ist und befreit ist von der erzwungenen Orientierung an den ordnenden Parametern Linientreue und Underground.

Ausstellungsmacherin Christiane Bauermeister beschreibt die Generation als neue Vertreter explizit russischer Kunst: "Sie wissen, was im Westen läuft. Sie kümmern sich jetzt wieder um sich selbst." Die Ausstellung hat diese Situation berücksichtigt. Russische Kuratoren aus verschiedenen Städten haben Künstler aus ihrer Heimat für das Projekt ausgewählt. Sie kommen zum Beispiel aus Nowosibirsk im tiefsten Sibirien, Jekaterienburg im Ural, Nischni Nowgorod an der Wolga – und natürlich aus St. Petersburg und Moskau.

Anna Matwejewa (siehe Linksammlung unten) beschreibt die aktuelle Kunst in Russland als chaotisch und über das weite Land verstreut. Chaotisch, weil alles was in den 90ern noch einer Bewegung zugeordnet werden konnte, inzwischen in individuelle Gesten auseinandergefallen ist. Es gab den Neoakademismus in St. Petersburg und den Moskauer Aktionismus – und jetzt? Das Hinterland wird aktiv, dort wo man früher nur kitschige Landschaftsmalerei und Stilleben mit Blumen vermutete.

Die jetzigen Künstler können kaum noch von der russischen Welle der 90er im internationalen Kunsthandel profitieren und müssen ihren Erfolg deshalb viel stärker individuell erkämpfen. Sie sind geprägt vom Zerfall des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Koordinatensystems und haben sich – als verständliche Konsequenz – auf die absurde Aussage zurückgezogen.

So löste sich die Bindung des Kunstwerks an einen, wie auch immer gearteten gesellschaftlichen Bezugsrahmen zunehmend auf. Der intendierte Auftrag für den Künstler wurde nicht gegeben, die Vetreter der Macht interessierten sich nicht für eine neue Ästhetik. Eine Anlehnung an westliche Ideologien – wie die Postmoderne – kam ganz schnell wieder aus der Mode. Das Ergebnis: das Untermauern einer künstlerischen Aussage mit einer Theorie ist heute endgültig passé.

Der Rückzug ins Private, Alltägliche und Individuelle ist seit Ende der 90er Trend. Die Kunst ist nun das Los der Einzelgänger, im Mittelpunkt steht die unmittelbare Selbstdarstellung.

Die russische Kunst hat eine neue Identität (noch) nicht gefunden. Der damit verbundene Verlust geht zwar mit Enttäuschungen einher, macht die Resultate aber gerade deshalb interessant: Sie sind facettenreich, dynamisch, flüchtig und munter. Deshalb trägt die Ausstellung auch den Titel "Davaj!", was auf Deutsch so viel wie "Dalli, dalli!" bedeutet.

Für den Leiter der Berliner Festspiele Joachim Sartorius sind die ausgestellten Arbeiten deshalb so interessant, weil "ihr Ziel letztlich die totale Revision aller gesellschaftlichen Fundamente ist. Insofern werden auch die Grenzen zwischen Politik und Religion, Ästhetik und Leben wieder aufgebrochen."

Die Ausstellung "Davaj!" ist in Zusammenarbeit der Berliner Festspiele und dem Wiener Museum für Angewandte Kunst entstanden. (kas)