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Neuerscheinungen politische Literatur

19. Juni 2011

Der siebzigste Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion hat den deutschen Buchmarkt inspiriert. Eine ganze Reihe interessanter Sachbücher sind jetzt neu erschienen oder wieder aufgelegt worden. Ein Überblick.

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Foto aus der Ausstellung 1941 - Der tiefe Schnitt : Nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion: Heftige Kämpfe am Bug; Copyright: Deutsch-Russisches Museum Berlin
Heftige Kämpfe am BugBild: Deutsch-Russisches Museum Berlin

Es hat viele Jahre gedauert und bedurfte intensiver Debatten, bis das Drama des deutschen Feldzuges von 1941, die unermesslichen Verbrechen von Wehrmacht und SS im Osten Europas, in der deutschen Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wurden. Jetzt, siebzig Jahre später, kann man sich auch anhand eines breiten Angebots an Büchern Informationen und Erkenntnisse verschaffen - es sind Bücher, die nicht ausschließlich für ein Fachpublikum geschrieben sind, sondern für alle zeitgeschichtlich interessierten Leserinnen und Leser.

Eine lang geplante Invasion

Buchcover: Rolf-Dieter Müller, Der Feind steht im Osten

Zu den anspruchvollen neuen Texten zählt Rolf-Dieter Müllers "Der Feind steht im Osten". Der Autor ist Militärhistoriker und hat vor allem bislang wenig bekannte Quellen recherchiert, die belegen, dass sich Adolf Hitler schon seit seinem Machtantritt 1933 mit der Frage einer Invasion in die Sowjetunion beschäftigte. Der Autor legt aber auch dar, dass es vielfältige Ideen über einen deutschen Krieg gegen Russland bereits im 19. Jahrhundert gab, auch noch nach Napoleons katastrophaler Niederlage vor Moskau. Eine unselige Tradition, wenn man so will, die sich dann in den realen Schlachten beider Weltkriege fortsetzte. Hitlers Außen- und Militärpolitik habe, so der Autor, wesentlich auf der Parole vom "Kampf gegen den Bolschewismus" basiert.

Der Historiker rekonstruiert die Vorgeschichte des "Unternehmens Barbarossa": Detailgenau schildert er Hitlers Ostpolitik, das außenpolitische Kräftemessen mit dem Gegner Moskau, verbrecherische Befehle, geschlossene und gebrochene Verträge, militärische Planungen und Strategien, innenpolitische Winkelzüge. Auch die politische Rolle von Polen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wird ausführlich beleuchtet. Die Vorstellung von Hitler als "genialem Kriegsherrn" müsse man endgültig "ad acta legen", bilanziert Rolf-Dieter Müller schließlich. "Barbarossa zeugt nicht nur vom moralischen, sondern auch vom professionellen Versagen einer vergangenen Militärelite". Ein Buch für die, die mehr über die historischen Zusammenhänge wissen wollen.

Belagertes Leningrad

Foto aus der Ausstellung 1941 - Der tiefe Schnitt : Im belagerten Leningrad trieben Bauern ihre Kühe zum Schutz sogar vor die berühmte Eremitage; Copyright: Deutsch-Russisches Museum Berlin,
Bauern suchen Schutz in der Stadt und treiben ihre Kühe sogar vor die EremitageBild: Deutsch-Russisches Museum Berlin

Vom September 1941 bis Januar 1944 - unvorstellbare zweieinhalb Jahre - kämpfte die Bevölkerung im belagerten und zerstörten Leningrad gegen die deutschen Besatzer, gegen Krankheit, Hunger und Tod. Mehr als eine Million Menschen starben in dieser Zeit. Die unglaubliche Leidensfähigkeit und Unbeugsamkeit der Einwohner ist in der Sowjetunion zum Mythos geworden und es auch geblieben. Dass es auch eine andere Seite gab, eine ganz und gar unheroische, auch Tiefpunkte menschlichen Verhaltens, das schildert die britische Autorin Anna Reid in ihrem Buch "Blokada". Es ist jetzt erstmals auf Deutsch erschienen. Reid beschreibt eindrücklich die Leidenszeit der Stadt an der Newa, sie zitiert aus Briefen und Tagebüchern, lässt überlebende Zeitzeugen zu Wort kommen. So ist ein aufrüttelndes Buch entstanden. Es zeigt die katastrophalen Fehleinschätzungen der politischen Führung in Leningrad und Moskau, es zeigt, wie auch im Angesicht der größten Gefahr der stalinistische Terror nach innen fortgesetzt wurde. Wir lesen im Tagebuch eines Mädchens, das in schlichten Worten den Hungertod seiner ganzen Familie beschreibt. Wir erfahren, wie die Musiker des Leningrader Orchesters, selbst dem Verhungern nahe, immer noch weiter musizierten, um die Menschen moralisch zu unterstützen. Die Evakuierung von Kindern, die aufopfernde Sorge von Frauen und Männern bei der Nahrungsbeschaffung, das ganze tägliche Elend - es sind erschütternde Geschichten um die stillen Helden des schrecklichen Alltags, die bei Anna Reid zu lesen sind. Unaufdringlich, wahrhaftig und sehr menschlich. Ein unbedingt empfehlenswertes Buch.

Eine Ausstellung und ein Buch

Das Buch "Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion",
Bild: Fischer Verlag

"1941. Der tiefe Schnitt" - unter diesem Titel zeigte das Deutsch-Russische Museum in Berlin-Karlshorst vor zehn Jahren eine beeindruckende Ausstellung. Nun ist sie noch einmal dort zu sehen. Sie stellt die Lebenswege von 24 Personen aus Deutschland und der ehemaligen Sowjetunion vor, Menschen, deren Leben durch den Zweiten Weltkrieg geprägt, beeinträchtigt, bedroht wurde: Soldaten und Offiziere beider Seiten, einfache Handwerker, Künstler und Intellektuelle, Zwangsarbeiter, Emigranten im jeweils anderen Land. Es sind Geschichten von Flucht und Deportation, Not und Hunger, Verzweiflung und Hoffnung. Vom Leben und Sterben. Gleichzeitig ist dazu jetzt ein Buch veröffentlicht worden mit Dokumenten, Briefen, mehr als 250 eindrucksvollen Fotos und einfühlsamen Begleittexten. Darunter ist auch ein sehr informativer Aufsatz über die unterschiedlichen Erinnerungskulturen in Deutschland und Russland, über die zwischen den Generationen "erzählten und verschwiegenen Geschichten", wie es darin heißt. Dass der Band in einer deutsch-englischen und einer deutsch-russischen Ausgabe erscheint, ist ein besonderes Verdienst von Herausgebern, Museum und Verlag.

Klassiker, wieder aufgelegt

Ein regelrechter Klassiker aus dem Jahre 1984 ist in diesem Gedenkjahr neu und als preiswertes Taschenbuch veröffentlicht worden: "Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion - Unternehmen Barbarossa 1941". Die Herausgeber Gerd Überschär und Wolfram Wette zählen nicht nur zu den führenden Experten in dieser Frage, sie waren 1984 auch bei den ersten, die mit vielen Legenden rund um den Überfall aufräumten - und der deutschen Gesellschaft einen Spiegel vorhielten. Die beiden Historiker und ihre Mitautoren geben einen Überblick, der heute noch Gültigkeit beanspruchen kann: Von Hitlers Entschluss zum Krieg im Osten über die propagandistische Begleitmusik, von der wirtschaftlichen Bedeutung des Raubzugs über die Judenvernichtung in Osteuropa bis hin zum heftig geführten Streit um die Wehrmacht und ihre Traditionen. Zuverlässige Informationen und gute Lesbarkeit sind immer noch ein Qualitätsmerkmal des Buches.

Ebenfalls nochmals herausgegeben wurde "Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion". Hier - und das ist das Besondere des Buches - rechnen deutsche UND russische Historiker mit manchen Legenden ab. Etwa der, dass Hitler nur einem längst von Stalin geplanten Angriff zuvor gekommen sei, damit also einen Präventivschlag geführt habe. Besonders interessant freilich sind die Kapitel, die quasi aus der Innensicht das Regime Stalins, des großen Antipoden von Hitler, beleuchten. Sie zeigen schwere politische Fehler des sowjetischen Diktators, seine drastischen Fehleinschätzungen in der Beurteilung der militärischen Bedrohung durch die Wehrmacht und die Fortsetzung des Terrors gegen die eigene Bevölkerung, sogar im Angesicht der ganz großen Katastrophe. Die Rote Armee - so eine zentrale und durch viele Dokumente belegte These - war ein "tönerner Koloss", unfähig und unvorbereitet für den deutschen Angriff. Der häufig beschworene sowjetische Präventivschlag sei gar nicht möglich gewesen. Die übereinstimmende Antwort der Autoren: Der Angreifer war Deutschland.

Autorin: Cornelia Rabitz

Redaktion: Silke Wünsch

Angaben zu den Büchern:

Rolf-Dieter Müller: "Der Feind steht im Osten", Ch. Links Verlag, 296 Seiten, 29,90 €, ISBN 978-3-86153-617-8

Anna Reid: "Blokada. Die Belagerung von Leningrad 1941 – 1944". Berlin Verlag, 560 Seiten, 34 €, ISBN 3827007131

"Juni 1941 - Der tiefe Schnitt". Ch.Links Verlag, 192 Seiten, 19,90 €, ISBN 978-3-86153-656-7 (deutsch-russische Ausgabe), ISBN 978-3-86153-656-7 (deutsch-englische Ausgabe)

Gerd.R. Ueberschär/Wolfram Wette (Hg.):"Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion", Fischer Taschenbuch Verlag, erweiterte Neuausgabe, 429 Seiten, 12,99 €, ISBN 978-3-596-19063-8

Bianka Pietrow-Ennker(Hg.):"Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion", Fischer Taschenbuch Verlag, ergänzte Neuausgabe, 252 Seiten, 12,99 €, ISBN 978-3-596-19062-1