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Balanceakt zwischen Sicherheit und Freiheit

Georg Matthes24. Dezember 2004

Wie weit darf ein Rechtsstaat bei der Terrorismusbekämpfung gehen? Das fragen sich Europas Bürgerrechtler schon lange. Jetzt kam von Englands höchstem Gericht eine Antwort: Nicht so weit wie die britische Regierung.

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Drei Jahre Haft ohne ProzessBild: DW

Tony Blair ist für seine harte Linie im Kampf gegen den Terrorismus bekannt. Das gilt nicht nur für das Ausland, sondern auch für das Vereinigte Königreich. In aller Eile hatte seine Regierung kurz nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York ein Sondergesetz zur Terrorismusbekämpfung durchgepeitscht. Es erlaubt verdächtige Ausländer ohne Anklage oder Prozess auf unbestimmte Zeit einzusperren. Doch jetzt entschied das höchste britische Gericht: Das Anti-Terrorgesetz verstößt im Kern gegen demokratische Normen und gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Damit geben die Richter neun ausländischen Gefangenen Recht, die seit drei Jahren in britischer Haft sitzen, ohne dass ein Verfahren gegen sie läuft.

Signalwirkung für Europa

Auge
Ab 2007 soll auch das Abbild der Iris in den britischen PassBild: Bilderbox

Den britischen Richtern geht es ums Prinzip. "Die wahre Bedrohung für das Überleben dieser Nation kommt nicht vom Terrorismus, sondern von Gesetzen dieser Art", erklärte Lordrichter Leonard Hoffmann. Nach dem 11. September 2001 haben Regierungen in ganz Europa im Namen der Sicherheit die europäischen Grundrechte ihrer Bürger beschnitten. Vor allem in England hätten das die Menschen zu spüren bekommen, sagt Conor Gearty, Rechtsexperte für Terrorismus und Zivilrecht an der London School of Economics. "Die liberalen Freiheiten in unserem Land werden durch skrupellose Abhör- und Überwachungsmethoden langsam aber sicher aufgeweicht." Ab 2007 sollen sogar biometrische Daten, wie zum Beispiel Fingerabdrücke und Bilder der Augeniris, von allen britischen Bürgern in einer nationalen Datenbank gespeichert werden.

Deutschland ist gefährdet

Von so einer Datenbank kann Wolfgang Speck, Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft bisher nur träumen. "Im Vergleich zu England stehen wir in der Anti-Terrorbekämpfung ganz am Anfang und haben eher Nachholbedarf", sagt Speck. Ein Anti-Terrorgesetz wie in England sei in der Bundesrepublik undenkbar, denn ein mutmaßlicher Terrorist kann ohne richterlichen Beschluss in Deutschland nicht länger als 48 Stunden festgehalten werden. "Im Gegenteil, die Deutschen unterschätzen die Gefahr des Terrorismus", sagt Speck. Der Datenaustausch zwischen den Landeskriminalämtern, aber auch dem Bundeskriminalamt und den Staatsanwaltschaften sei bisher juristisch kaum möglich und politisch scheinbar nicht erwünscht. "Zur Zeit haben wir die Lage hinsichtlich weicher terroristischer Ziele nicht im Griff", sagt Speck.

Das Misstrauen wächst

Anti-Terror Kampf Bewaffnete Britische Polizisten
Die Zahl der bewaffneten britischen Soldaten wächst jedes JahrBild: AP

In England hat es bisher keinen Anschlag gegeben, wohl auch weil die britischen Behörden hart durchgegriffen haben. Doch Rechtsexperte Gearty sieht noch einen anderen Grund: "Die Prophezeiungen der Polizei und der Geheimdienste haben sich als falsch erwiesen und deshalb wehren sich die Richter zu Recht gegen die Art und Weise, wie der Terrorismus auf Kosten der bürgerlichen Freiheiten bekämpft wird". Hätte es eine Welle der Gewalt gegeben, wäre die Entscheidung der Richter wohl anders ausgefallen, so der Rechtsexperte. Doch seit dem Skandal um das gefälschte Irak-Dossier, das die Regierung Blair als Legitimation für den Irakkrieg nutzte, sei das Vertrauen der Justiz in den britischen Staat getrübt. "Den Preis dafür muss Tony Blair jetzt zahlen", sagt Gearty.